Der Gesang der Maori
Glas auf dem
niedrigen Couchtisch ab. Dann legte er behutsam ein Kissen hinter den Kopf des
alten Mannes und versuchte, ihn in eine bequemere Schlafposition zu bringen.
John nahm eine alte, graue Decke von der Couch und breitete sie vorsichtig über
Drossmann aus. Der Mann hatte ihm wahrscheinlich sowieso alles gesagt, was er
wusste. Erst als John sich wieder aufrichtete und einen letzten Blick auf ihn
warf, bemerkte er, dass die Augen des Alten weit aufgerissen waren und ihn so
misstrauisch wie am Anfang ansahen. Wahrscheinlich erinnerte er sich schon gar
nicht mehr an seinen Besuch. »Hat mir noch eine Karte geschrieben!«, sagte er
plötzlich. John hielt die Luft an.
»Meine Mutter?«
»Ja. Hat sich vielleicht doch nicht so gut gefühlt, weil sie sich
nicht von mir verabschiedet hat. Ich habâ sie noch!« Damit stand er auf,
schwankte kurz, hielt sich an der Lehne von seinem Stuhl fest und wartete, bis
er wieder einen festen Stand gefunden hatte. Dann ging er mit unsicheren
Schritten zu einer kleinen Kommode, zog eine Schublade auf und nahm ein paar
Briefe und Postkarten heraus. Zielsicher griff er nach einer Karte und reichte
sie John. »Das ist sie.«
Mit einem Mal kam es John so vor, als ob sich ein Fenster in eine
andere Zeit für ihn öffnen würde. Er zwang sich dazu, einmal tief durchzuatmen,
und sah sich zunächst das Bild genauer an. Es zeigte das Brandenburger Tor,
über dem ein Hakenkreuz flatterte. Motive ohne Hakenkreuz waren in dieser Zeit
wahrscheinlich schwer zu finden gewesen. Er drehte die Karte um. In fein
säuberlicher Schrift stand da: »Bin gut in Berlin angekommen, habe eine gute
Arbeit im Krankenhaus gefunden. Machen Sie sich keine Sorgen mehr um mich, es
geht mir gut. Mit freundlichem GruÃ, Eva Erhardt.«
John las die Zeilen bestimmt ein Dutzend Mal durch. Krankenschwester
in Berlin? Das hatte seine Mutter also nach ihrer Rückkehr nach Deutschland
gemacht. Durch den groÃen Krieg gab es für eine Krankenschwester sicher genug
zu tun ⦠Damit müsste er sie eigentlich finden. Es konnte doch nicht sein, dass
es in Berlin so viele Krankenhäuser gab. Oder doch? Auf jeden Fall musste er
los, musste unbedingt in diese Stadt. Hoffentlich hatte Ava wenigstens im
richtigen Teil gearbeitet â schlieÃlich war Berlin inzwischen geteilt,
Ostberlin war die Hauptstadt der neu gegründeten DDR.
Die Geschichte von der Luftbrücke hatte sogar im fernen Neuseeland für Aufruhr
gesorgt.
Erst jetzt bemerkte John, dass der alte Nachtpförtner ihn immer noch
ansah und fordernd seine Hand ausstreckte. »Ich möchte diese Postkarte bitte
zurückhaben. Es ist schlieÃlich eine meiner wenigen Erinnerungen an eine
glückliche Zeit meines Lebens.«
Widerstrebend gab John ihm die Karte. Er hätte sie zu gerne in
seinem Seesack mitgenommen, seiner Mutter vielleicht gezeigt, um ihr zu sagen,
wie mühselig seine Suche nach ihr gewesen war. Aber in dieser Sache war mit
Drossmann nicht zu spaÃen. Er riss John die Karte fast aus der Hand und legte
sie wieder in seine Kommode zurück.
»Ich bin müde! Ich will schlafen!«, verkündete er dazu in einem Ton,
der keinen Widerspruch duldete und keine Antwort erwartete.
John nickte und wandte sich der Tür zu. Hier drehte er sich ein
letztes Mal um. »Vielen Dank! Sie haben mir wirklich sehr geholfen. Wenn ich
meine Mutter finde, sage ich ihr viele GrüÃe. Ist Ihnen das recht?«
Drossmann nickte nur, als er die Tür hinter ihm schloss. »Ja, tun
Sie das.« Damit stand John wieder in dem engen Treppenhaus.
Auf der StraÃe atmete er erst einmal tief durch. Also Berlin. Morgen
schon wollte er sich auf den Weg machen. Er ahnte, warum seine Mutter Hamburg
unbedingt hatte verlassen wollen. Irgendwo hier waren womöglich noch ihre
Eltern â und es bestand immer die Gefahr, dass sie ihnen eines Tages in die
Arme lief und ihre Niederlage in Neuseeland doch noch erzählen musste. Diese Gefahr
war in Berlin deutlich kleiner.
John machte sich auf den Weg. Schon morgen musste er seiner
Vermieterin leider kündigen. Die Suche in Hamburg war nach zwei Tagen beendet.
Sehr viel schneller, als er jemals geglaubt hatte â aus einem Grund, der ihm
auch nicht ganz klar war, hatte er immer angenommen, dass seine Mutter die
Hafenstadt nie verlassen würde. Aber die Spur nach Berlin war die beste, die er
hatte.
Am nächsten Tag kletterte er in das
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