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Der Gesang der Maori

Der Gesang der Maori

Titel: Der Gesang der Maori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Temple
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weiß, was man will, wird man auch keinen Weg
finden, der dorthin führt. Das habe ich zumindest in meinem Leben erfahren
müssen.«
    Â»Und Sie?« John sah der Frau mit einem Mal gerade in die Augen. »Was
haben Sie denn noch vor?«
    Â»Ach, ich …« Sie winkte ab. »Mein Leben ist schon vorbei. Wenn die
Kinder vor den Eltern sterben, dann geht auch ein Stück Leben der Eltern zu
Ende, da bin ich mir ganz sicher. Das hat die Natur einfach nicht vorgesehen,
dass das passiert.« Sie wirkte mit einem Schlag wie eine müde, alte Frau.
    John legte seine Hand auf ihre. »Ich verspreche Ihnen, dass ich
etwas Vernünftiges mit meinem Leben anstelle, wenn Sie mir versprechen, dass
Sie Ihr Leben nicht einfach verloren geben. In Ordnung?«
    Aber sie schüttelte nur den Kopf. »Ach lass mal, mein Junge. Du
machst garantiert etwas aus deinem Leben. Mir tut nur deine Mutter leid, dass
sie das nicht miterleben wird!« Sie sah auf die Uhr. »Und jetzt mach, dass du
zu deinem Frachter kommst! Bis wann dürft ihr an Bord? Bis elf Uhr? Dann lauf!«
    Es kam John ein bisschen wie ein Rauswurf vor – und das war es wohl
auch. Augenblicke später lief er durch die Hamburger Straßen zurück zum Hafen.
Und versprach sich selbst dass er Frau Heidekamp irgendwann einen Brief
schreiben würde. Oder wenigstens eine Postkarte.
    Â 
    Als die Aotearoa am
nächsten Morgen ablegte und der Bug des Frachters sich ganz langsam in Richtung
Hafenausgang drehte, warf John allerdings keinen einzigen Blick zurück auf die
Hansestadt. Er arbeitete Hand in Hand mit den anderen Matrosen unter Deck,
verzurrte die letzten Frachtstücke und kümmerte sich darum, dass die großen
Dieselmotoren ordentlich geschmiert wurden. Harte Arbeit – aber er hatte das
Gefühl, in eine sehr viel bessere Welt als an Bord der Pacific Maiden geraten
zu sein. Die Aotearoa fuhr bereits unter vollem Dampf weit draußen auf der
Nordsee, als er das erste Mal für einen kurzen Augenblick an Deck kommen konnte.
Zu seiner Überraschung sah er einige zivil gekleidete Gestalten. Er stieß
seinem neuen Kollegen, der mit ihm nach oben gekommen war, in die Seite. »Was
ist das denn? Haben wir auch Passagiere?«
    Der nickte. »Wusstest du das nicht?
Wir haben vier oder fünf Kabinen, die immer an Passagiere vermietet werden. Ist
sehr viel billiger als ein Flug nach Neuseeland. Dauert aber auch ein paar Wochen
länger. Aber halte dich fern von den Frauen, unser Kapitän sieht es nicht
gerne, wenn seine Matrosen da auf Mädchenfang gehen …« Er lachte, klopfte ihm
noch einmal auf die Schultern und lehnte sich dann gegen die Reling, um die
frische Luft zu genießen.
    John beobachtete trotzdem erst einmal weiter die Passagiere. Eine
kleine Familie mit zwei Kindern, zwei oder drei Männer, die sich ernst
unterhielten, und etwas abseits eine einsame, weibliche Figur. Schlank, jung,
mit einem Pferdeschwanz. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass er diese Frau
schon einmal gesehen hatte. Aber ihm fiel nicht ein, wo – und nach einer Weile
zog er es auch vor, sich an die Reling zu stellen und der weißen Gischt
zuzusehen, die an der Bordwand aufschäumte, und erfreute sich am Geschrei der
Möwen. Er war auf dem Weg nach Hause. Endlich. Zumindest in dieser Sache war er
sich absolut sicher.
    Die nächsten Tage verliefen ohne große Aufregungen. John lernte die
regelmäßigen Abläufe an Bord kennen, freundete sich mit zwei Matrosen an – und
war regelrecht überrascht, dass nicht jede Überfahrt eine Quälerei sein musste.
Der Frachter war schon auf der Höhe von Spanien, als er der rätselhaften Frau
unter den Passagieren wieder begegnete. Diesmal fand er sie an seiner liebsten
Stelle: im Bug. Von hier aus sah man nichts als das Meer und die Zukunft, der
Gestank nach Öl und verbranntem Diesel lag hinter ihm. Doch an diesem Abend war
der Aussichtsplatz besetzt: Die schlanke Frau hatte sich gegen den Wind in eine
dicke Jacke gehüllt und sah nachdenklich in die Weite. John wollte sich schon
unauffällig entfernen, als sie sich plötzlich umdrehte.
    Â»Sie können sich ruhig neben mich stellen, das Meer wird nicht
weniger, wenn zwei Menschen darauf blicken.« Ihre Stimme klang klar und ein
wenig schnippisch – und mit einem Mal erinnerte sich John auch wieder, woher er
sie kannte.
    Â»Wir haben uns schon einmal getroffen«, erklärte

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