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Der Gesang der Maori

Der Gesang der Maori

Titel: Der Gesang der Maori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Temple
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endlos scheinenden Schafweiden. Überhaupt Schafe, Inge sah mit
offenem Mund aus dem Fenster und murmelte nur immer wieder: »Wie kann ein
einziges Land so viel von diesen Tieren haben? Was macht ihr damit?«
    Â»Wir geben der Welt Schafwolle und Lammfleisch. Und dafür macht die
Welt uns reich«, erklärte John. »Wobei der Begriff Welt nicht ganz richtig ist
– was du in Wirklichkeit hier siehst, ist der Bauernhof für Großbritannien. Die
Engländer sorgen dafür, dass wir kaum Arbeitslose haben und unser Einkommen
immer weiter steigt. Irgendwann ist der neuseeländische Traum erfüllt, und alle
haben ein Haus, ein Auto und ein Schiff.«
    Â»Und ein deutsches Mädchen, das für euch schneidert«, ergänzte Inge
trocken. »Ist das wirklich der Grund, aus dem ihr sogar in Deutschland nach
Arbeitskräften sucht? Das neuseeländische Wirtschaftswunder?«
    Â»Ja.« John nickte noch einmal. »Klingt merkwürdig, aber im
Augenblick sind wir eines der reichsten Länder der Welt. Und das nur mit
Schafen …«
    Inge sah wieder aus dem Fenster. Sie kamen an einem malerischen See
vorbei, auf dem sich ein paar schwarze Schwäne niedergelassen hatten.
Trauerweiden und die allmählich einsetzende Abenddämmerung sorgten dafür, dass
das Bild fast unerträglich romantisch aussah. Sie lehnte ihren Kopf an das
Fenster. »Ob ich hier wohl wirklich mein Glück finden werde?«, murmelte sie. So
leise, dass John es fast nicht verstehen konnte.
    Er beugte sich ein wenig zu ihr hin. »Doch. Du wirst es sehen: Das
hier ist ein Land, in dem man glücklich werden kann.«
    Sie drehte sich ihm zu. »Und du? Du bist von hier und wirkst
trotzdem tieftraurig. So, als ob du dem nicht trauen würdest, was da kommen
könnte. Entschuldige, wenn ich so offen bin, aber du hast auch kein rechtes
Ziel im Leben. Du fährst mit mir nach Wellington, weil du nichts Besseres
vorhast, oder? Ich habe dich schon längst durchschaut, glaube ich!«
    Für einen Augenblick hatte es John die Sprache verschlagen. Dann
zuckte er verlegen mit den Schultern. »Das mag sein. Ich verstehe mich nicht
wirklich gut mit meinem Ziehvater, musst du wissen. Aber das hat nichts mit
Neuseeland zu tun. Mein Land bietet auch jemandem wie mir ungeahnte
Möglichkeiten. Ich habe mich nur noch nicht entschieden, ob ich das gemeinsam
mit meiner Familie oder ohne sie erleben will. Ich habe einen Halbbruder, den
ich sehr liebe – aber muss ich dafür wirklich weiter mit meinem Ziehvater
auskommen? Ich weiß es nicht … und deswegen wirke ich wohl so ziellos. Aber bei
dir ist es doch nicht anders: Du ziehst für drei lange Jahre nach Wellington,
weil dir gerade nichts Besseres einfällt. Das ist doch auch keine durchdachte
Entscheidung.«
    Â»Nein.« Inge schüttelte den Kopf. »Habe ich auch nie behauptet. Ich
erkläre dir irgendwann einmal, was mich wirklich dazu bewogen hat, meiner Heimat
den Rücken zu kehren. Bis dahin wirst du dich ein bisschen gedulden müssen.«
    Sie griff in ihre Tasche und zog einen Papierbeutel hervor, aus dem
sie zwei in Butterbrot gewickelte Sandwiches zog. »Einmal Hühnerbrust und
einmal kalter Braten! Das habe ich gestern bei unserer Hauswirtin bestellt, und
sie hat es mir heute Morgen trotz der ganzen Aufregung um die Königin gegeben.
Wir sollten es uns schmecken lassen – wenn wir in Wellington ankommen, ist es
ja schon fast wieder früh am Morgen.«
    John biss mit Appetit ab. »Das ist wahrscheinlich das beste Sandwich
meines Lebens«, meinte er mit vollen Backen. »Ich hätte dieser ständig aufgeregten
Dame gar nicht zugetraut, dass sie auch kochen kann.« Er sah ein Weilchen aus
dem Fenster und genoss die stille Vertrautheit mit der eigenwilligen Frau an
seiner Seite. Einer Eingebung folgend wandte er sich ihr nach einigen Minuten
zu. »Versprich mir, dass wir uns nicht aus den Augen verlieren, wenn du in
Wellington bist. Egal, was wir dann machen – wir könnten doch … befreundet
bleiben. Oder?«
    Sie griff nach seiner Hand und drückte sie. »Das ist doch
selbstverständlich. Ich mag dich. Wirklich.« Ein fast schüchternes Lächeln
stahl sich auf ihr Gesicht. »Wer weiß – vielleicht sogar ein bisschen mehr als
das.«
    Vorsichtig legte John seinen Arm um ihre Schulter. »Das wäre schön,
sogar sehr schön«, flüsterte er. Seine Stimme

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