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Der Gesang der Maori

Der Gesang der Maori

Titel: Der Gesang der Maori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Temple
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war vor Aufregung fast heiser.
Ihm fiel nichts ein, was er noch sagen konnte. Alles fühlte sich irgendwie
unpassend an, würde den Zauber des Augenblicks zerstören.
    So blieben sie Arm in Arm sitzen und sahen zu, wie sich allmählich
die Dämmerung in eine finstere Nacht verwandelte. John würde diese Stunde für
den Rest seines Lebens nicht vergessen, in der er durch den dünnen Stoff von
Inges Kleid ihre Körperwärme spürte und sah, wie es sich unter ihrem Atem hob
und senkte. Zwei sommersprossige Kinder – offensichtlich Geschwister – rannten
laut lachend durch das Abteil nach hinten. Sie deuteten auf Inge und John,
riefen etwas von »Verliebt, verlobt, verheiratet!« in dem Ton, den nur Kinder haben,
die schon viel zu lange wach sind. Eine alte Frau in einem schwarzen Kleid sah
den beiden streng hinterher, murmelte etwas von der völlig missratenen Jugend,
die dieses Land in den Abgrund reißen würde. John schloss für einen Moment die
Augen. Vielleicht war das wirklich der letzte Abend, den er ohne Ziel und ohne
Heimat verbringen musste. Morgen in Wellington würde er sich an der Seite von
Inge ein neues Leben aufbauen. Die Sonne würde für sie beide aufgehen. Er
spürte, wie ihre und seine Atmung allmählich tiefer wurden und in den gleichen
Rhythmus fielen – und wie er langsam in einen glücklichen Schlaf sank …
    Ohrenbetäubendes Kreischen weckte John aus seinen friedlichen
Träumen. Der Zug bebte unter den Kräften, die auf ihn wirkten. John spähte aus
dem Fenster, aber alles, was er erkennen konnte, war tiefe Dunkelheit. Wolken
verbargen den Mond und die Sterne, von den Bäumen waren nicht einmal Schatten
zu sehen. Das Kreischen kam ihm immer lauter und verzweifelter vor, dann
ertönte ein schreckliches Krachen von den vorderen Wagen, das gleichsam
heranraste. Kurz darauf schien der Waggon für Sekundenbruchteile in der Luft zu
stehen – dann kippte er nach vorn und stürzte in die bodenlose Dunkelheit. John
hatte Inge instinktiv in seine Arme genommen, um sie vor dem zu schützen, was
da passierte. Als der Waggon nach einem endlos scheinenden Sturz aufschlug,
wurde sie ihm entrissen.
    Innerhalb von Sekunden zeigte sich, dass sie nicht auf festem Boden
gelandet waren – durch ein geborstenes Fenster strömte Wasser in das Innere des
Waggons, ohrenbetäubendes Rauschen erfüllte den Raum. Es herrschte absolute
Dunkelheit, John tastete panisch um sich und fühlte Körper, Holzteile, Taschen
und Stricke. Er versuchte verzweifelt herauszufinden, wo überhaupt oben war,
während ein Teil seines Verstandes wie wild arbeitete, um zu begreifen, was
geschehen war. Wie konnte eine so ruhige Fahrt in der Eisenbahn so plötzlich zu
einer Katastrophe werden? Das Wasser erreichte John, innerhalb weniger
Augenblicke stand es ihm bis zur Hüfte. Er musste aus diesem Waggon heraus, bevor
der sich in eine tödliche Falle verwandelte. Mühsam bahnte John sich einen Weg
durch Gepäck, Dreck und steigendes, kaltes Wasser zur Tür. Mit diesem Ziel war
er nicht allein. Mehrere Menschen drängten sich bereits davor. Eine hysterische
Frauenstimme schrie immer wieder: »Ich kriege es nicht auf! Es klemmt! Es geht
nicht!« Ihre Stimme wurde panischer und überschlug sich, je höher das Wasser
stieg.
    John wandte sich ab. Wo war Inge? Und wie konnte er diesen Waggon
verlassen und sich irgendwie retten? Seine Augen hatten sich inzwischen an die
Dunkelheit gewöhnt, er konnte jetzt wenigstens erahnen, wo die Fenster waren,
die sich etwas heller abhoben. Langsam schob er sich zu dem ihm am nächsten
gelegenen Fenster. Er nahm die beiden Griffe in die Hand und versuchte, den
Schiebemechanismus zu betätigen. Nichts rührte sich. Die Schreie von der Tür
wurden immer lauter und verzweifelter. John zögerte einen Moment. Dann zog er
entschlossen sein hellblaues Hemd aus und wickelte es sich um die rechte Hand.
Damit holte er aus und schlug mit voller Kraft gegen das Fenster. Es rührte
sich nicht. Er holte noch einmal aus, legte dieses Mal seine gesamte Kraft in
den Schlag. Mit einem leisen Knacken gab die Scheibe nach – und Sekunden später
spürte er, wie ihm noch mehr Wasser um den Oberkörper floss. So schnell es
ging, griff er durch die Öffnung und zog sich mühselig nach draußen. Dann
steckte er den Kopf in das Innere.
    Â»Hierher! Kommt hierher, durch dieses Fenster

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