Der Gesang der Maori
mit einem schrägen Lächeln an. »Ich
muss zugeben, dass ich jetzt ausnahmsweise einmal einen starken Mann brauchen
könnte ⦠Und ich schwöre, dass es nicht nur Gewürze sind, die ich da in meinem
Koffer habe!«
John stemmte die Hände in die Hüften. »Dann bin ich wohl der beste
Mann für diesen Job! Ich muss nur noch meinen Sold abholen, meinen Seesack
holen und abmustern â dann stehe ich dir voll und ganz zur Verfügung!«
Inge lehnte sich genüsslich an eine kleine Hafenmauer. »Ich warte
auf dich!« Kein Wunder: Nach der drückenden Hitze am Ãquator und den Stürmen in
der Tasmansee erschienen jetzt die kristallklare Luft und der nur leicht
bewölkte Himmel wie das Paradies. Nur noch zwei Tage bis Weihnachten,
Hochsommer an diesem Ende der Welt.
Eine knappe Stunde später schleppte John das Gepäck seiner
Reisebekanntschaft vom Hafen in die Stadt. Inge suchte nach einer einfachen,
günstigen Pension â und das klang genau wie das, was John sich für seine erste
Nacht auf festem Boden vorgestellt hatte. Merkwürdigerweise flatterte vor
vielen Häusern die neuseeländische Flagge mit dem Kreuz des Südens oder des
Union Jack, und zwischen den Häusern waren sogar ein paar Girlanden gespannt â
ein Schmuck, auf den sich John und Inge keinen rechten Reim machen konnten. Sie
entdeckten schlieÃlich fast zeitgleich ein kleines, sauberes Häuschen, in dem
ein paar Zimmer für wenige Pfund vermietet wurden.
Inge deutete auf das Schild »Rooms to let«: »Bedeutet das nicht,
dass wir hier eine Chance auf ein Dach über dem Kopf haben?«
»Ja«, nickte John und betätigte auch schon den schweren Türklopfer.
Eine energisch aussehende Frau Mitte vierzig öffnete, hörte sich ihr Anliegen
an und nickte. »Ihr habt Glück, mir sind soeben zwei Mieter abgesprungen.« Sie
sah das Pärchen misstrauisch an. »Ihr wollt doch nicht etwa nur ein Zimmer?
Dann muss ich aber die Ehepapiere sehen! Unzucht hat in meinem Haus keinen
Platz!«
»Nein, nein«, winkte John ab. »Wir sind nur Bekannte, die heute
Nachmittag vom gleichen Schiff gestiegen sind. Wir wollen ganz bestimmt zwei
Zimmer.«
»Dann ist das in Ordnung. Ihr müsst verstehen: Die Sitten verfallen
seit dem Krieg immer schneller. Bald herrscht in Neuseeland nur noch die Sünde,
und keinen kümmert es!« Zu diesen Worten nickte sie so ernsthaft, als ob sie
ganz allein den Kampf gegen das Ãbel antreten wollte.
John und Inge warfen sich einen Blick zu. Beide mussten sich
beherrschen, um nicht loszulachen. Aber sie unterschrieben brav den
Anmeldezettel für die nächsten Nächte, die ihnen die Sittenwächterin hinschob.
John wuchtete Inges schweren Koffer in ihr Zimmer und verstaute seinen Seesack
in einem Schrank.
Noch bevor die Abenddämmerung einsetzen konnte, zogen die beiden
wieder los â nicht ohne die Ermahnung ihrer Vermieterin, dass sie vor zehn Uhr
wieder zu Hause sein sollten. »Später will ich schlafen, da dulde ich keine
Heimkehrer mehr. Betrunkene möchte ich übrigens auch nicht in meinem Haus
sehen!«, erklärte sie noch, bevor sie die Tür hinter ihnen schloss.
»Leider gibt es hier keine Tempel â und auch sonst recht wenig, was
sich für eine Besichtigung lohnen würde«, meinte John, als sie die verlassenen
StraÃen in Richtung Innenstadt entlangliefen. »AuÃerdem ist mein Volk sehr
bedacht auf die Einhaltung von kurzen Ãffnungszeiten. Du wirst also am
Wochenende oder nach achtzehn Uhr kein offenes Geschäft mehr finden.«
»Wie in Deutschland«, stellte Inge fest. »Bei uns ist allerdings
auch noch mittwochnachmittags alles geschlossen â¦Â«
Sie liefen die prachtvoll ausgebaute Queen Street, die ebenfalls mit
bunten Fähnchen und Flaggen festlich geschmückt war, entlang und entdeckten
irgendwann wenigstens eine geöffnete Milkbar, in der man sich mit einem
Sodawasser oder einem Bier an eine kleine Theke setzen konnte. Inge schlürfte
durch ihren Strohhalm hingebungsvoll einen Milkshake. Ãber den Rand des Glases
sah sie John neugierig an.
»Okay, was ich morgen vorhabe, ist klar: Ich nehme den Zug und reise
nach Wellington. Aber ich habe immer noch keine Ahnung, was du eigentlich
planst. Gehst du zu deiner Familie, von der du mir nichts erzählen willst? Oder
bleibst du hier in der Stadt?« Ihre Stimme klang irgendwie
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