Der Gesang der Maori
energisch, so als ob
sie sich diesmal nicht mit einer Ausrede zufriedengeben würde.
John räusperte sich verlegen, als er plötzlich eine Idee hatte.
»Meine Familie ist auf der Südinsel zu Hause. Wenn du also nichts dagegen hast,
würde ich dich gerne begleiten. Von Wellington kann ich dann die Fähre nach
Picton nehmen, und dann bin ich so gut wie zu Hause. Ist das in Ordnung?«
Er bemühte sich, es nicht nach einer Idee klingen zu lassen, die ihm
gerade eben erst gekommen war. So musste er sich nicht sofort von Inge verabschieden,
wo sie ihm im Moment doch die engste Vertraute war, die er auf dieser Welt
hatte.
Er war sich nicht sicher, was sie wirklich dachte â aber sie nickte
und meinte leichthin: »Keine Ahnung, warum ich damit irgendwie gerechnet habe.
Aber ich freue mich, wenn du mitkommst. Und bestehe dann auch auf die
Stadtführung in Wellington!«
»Mache ich gerne!«, nickte John. »Aber ich fürchte, Wellington ist
noch langweiliger als Auckland. Neuseeland ist voller toller Menschen mit
groÃen Träumen â aber ich fürchte, es ist nicht das Land der groÃartigen
Kirchen und beeindruckenden Bauten. Bei uns kann man die Städte vergessen â
dafür ist die Natur umso groÃartiger. Das wirst du morgen sehen: Wir kommen in
der Nähe des Ruapehu vorbei, das ist ein wunderschöner Vulkan. Dazu der
Dschungel, die Farnbäume, die Berge und die Fjorde ⦠irgendwann wirst du mein
Land lieben.«
»Das hoffe ich«, erklärte Inge mit feierlichem Gesicht. Es schien ihr
wirklich ernst zu sein. »Und morgen geht es also Richtung Süden ⦠Weihnachten
in Wellington!«
Gemeinsam kehrten sie in ihre Pension zurück. Noch während sie die
Eingangstür hinter sich schlossen, tauchte die Vermieterin mit aufgeregter
Miene auf. »Habt ihr überhaupt den Schmuck in der Stadt gesehen? Der wurde für
die Queen aufgehängt, könnt ihr euch das vorstellen â es könnte ja sein, dass
ihr auf eurem Schiff gar keine Nachrichten gehört habt. Und neue Zeitungen werden
ja auch nicht in jedem Hafen verteilt, oder? Morgen Vormittag soll die SS Gothic einlaufen, dann beginnen für Auckland die
prachtvollsten Wochen seit der Gründung der Stadt. Queen Elizabeth hier bei uns
zu Besuch ⦠ich kann gar nicht sagen, wie aufgeregt ich deshalb bin!«
John war wirklich überrascht. »Das haben wir an Bord der Aotearoa
tatsächlich nicht mitbekommen! Wir haben uns nur den ganzen Abend gefragt, warum
die Stadt so festlich geschmückt ist. Aber das ist jetzt ja klar â¦Â« Er wandte
sich an Inge. »Wie sieht es aus: Sollen wir morgen erst einmal ein bisschen der
Königin zujubeln? Unser Zug fährt schlieÃlich erst am frühen Nachmittag!«
»Abgemacht!«, erklärte Inge. Und damit verschwanden beide in ihrem
Zimmer. John war über sich selbst überrascht, dass er jetzt spontan Inge
begleiten wollte â und er hatte das Gefühl, dass er eine der besten
Entscheidungen seines Lebens gefällt hatte.
Inge konnte lange kein Auge zumachen. War es Zufall, dass sie
ausgerechnet diesen blonden Matrosen schon in Hamburg kennengelernt hatte â
oder war das womöglich doch Schicksal? Sie wurde das Gefühl nicht los, dass
sich morgen ihr Leben entscheiden würde â und dass es viel mit diesem John zu
tun hatte. Ein Weilchen stand sie noch aufgeregt an ihrem Fenster und sah das
Kreuz des Südens an. Als sie endlich doch ins Bett ging und vom Schlaf
übermannt wurde, spielte ein Lächeln um ihre Lippen.
AUCKLAND, 23.12.1953
8.
Die aufgeregte
Zimmerwirtin klopfte an alle Türen. »Steht auf, die Queen kommt! Schnell zum Hafen,
sonst verpasst ihr was!« John konnte die Begeisterung zwar nicht ganz teilen,
sprang aber trotzdem aus dem Bett und schlüpfte in seine Kleider. Als er vor
die Tür trat, stand Inge schon vor ihm. Sie trug ein fröhliches, leuchtend
gelbes Sommerkleid mit einem breiten, roten Gürtel. Beides hatte er noch nie an
ihr gesehen. Er pfiff leise durch die Zähne. »Was ist das denn? Das königliche
Outfit?«
Sie schüttelte den Kopf. »Eher das
Outfit für meine Fahrt nach Wellington. Immerhin ist heute der allerletzte
Abschnitt meiner Reise in ein neues Leben! Der Blick auf eure Königin ist da
wohl eher Nebensache â¦Â«
John sah sie tadelnd an. »Wenn du schon in Neuseeland bist, dann
solltest du dir als
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