Der Gesang der Orcas
Vorfahren ein Potlatch feierten, eines unserer Schenkungsfeste, war das eine willkommene Gelegenheit der Privilegierten, ihren Reichtum und ihre Macht zu zeigen. Sie taten das, indem sie wertvolle Sachen verschenkten. Der Beschenkte wurde auf diese Weise gedemütigt, weil er manchmal nicht in der Lage war, sich zu revanchieren. Aber es kam auch vor, dass einer vollkommen pleite war, weil er alles, was er besaÃ, verschenkt hatte.«
Ich fand die alte Welt von Javids Vorfahren ziemlich merkwürdig. »Und wozu war nun dieser Sklaventöter?«
»Um Sklaven zu töten, Copper.« Er lief weiter und zog mich hinter sich her. »Ich weiÃ, es klingt barbarisch, aber so war das nun mal. Um seinen Reichtum zu zeigen, konnte ein Häuptling seine Sklaven auf einem Potlatch verschenken. Wenn er sie jedoch tötete, hob das sein Ansehen noch mehr.«
Dass überall auf der Welt Menschen vor langer Zeit seltsame Dinge getan hatten, war mir nicht fremd. Aber während ich Javid zuhörte, wurde mir doch mulmig zu Mute, denn so vergangen hörte sich das alles gar nicht an. Ein Teil dieser alten Welt schien in den Köpfen der Makah immer noch vorhanden zu sein, Javid nicht ausgeschlossen. Wenn ich nur mehr über ihn erfahren könnte. Viel mehr, als drei Wochen zulieÃen.
Der Ozean rauschte und Muschelschalen knackten unter meinen FüÃen. Eine zankende Möwe flog über unsere Köpfe.
»Bist du jetzt entsetzt?«, fragte er.
»Nicht wirklich«, antwortete ich. »In vielen alten Kulturen haben die Menschen grausame Dinge getan, weil sie es nicht besser wussten. Aber heute ist das anders. Heute wissen wir es besser.«
»Dann hältst du also nichts von Traditionen«, meinte er mit nüchterner Stimme.
»Das habe ich gar nicht gesagt. Aber alles verändert sich, Javid. Auch die Menschen, ihre Ideen und Gedanken, ihre Wünsche. Von starren Traditionen halte ich wirklich nichts.«
Er warf mir einen zweifelnden Blick zu. »Du meinst, auch Traditionen können sich verändern?«
»Ja, klar.«
»Aber sind es dann überhaupt noch Traditionen?«
»Ich denke schon.« Ich musterte ihn von der Seite und merkte, wie er darüber nachdachte. »Feiern die Makah heute noch Potlatches in Neah Bay?«, fragte ich ihn.
»Ja, zum Beispiel zu unseren Festtagen in zwei Wochen.«
»Ich nehme mal an, dass dabei keine Sklaven mehr getötet werden.«
»Blödsinn«, sagte Javid und lachte ärgerlich. Er lieà meine Hand los.
»Also ist euer Potlatchfest eine Tradition, aber eine mit veränderten Bräuchen«, erklärte ich.
»Was verstehst du schon davon?«, brummte Javid. Er wirkte enttäuscht.
»Ich verstehe nicht viel von euren Traditionen«, gab ich zu, »aber ich mache mir so meine Gedanken.«
Javid lief jetzt schneller. Mit den FüÃen stieà er Schwemmholzstücke zur Seite. Ich versuchte ihn einzuholen, als er abrupt stehen blieb. »Mein Vater war ein guter Fischer und er kannte das Meer mit all seinen Tücken. Und trotzdem ist er auf diese absurde Weise gestorben: ertrunken, mit dem Fuà im eigenen Netz verfangen. Ich glaube, er ist gestorben, weil er ein Walfänger war.«
»Weil er ein Walfänger war?« Ich sah Javid mit groÃen Augen an.
Er schüttelte den Kopf und hob die Hand, als sei es zu schwierig, das zu erklären. Ein bisschen verloren stand er da.
»Erklär es mir, Javid, bitte.«
»Walfänger besitzen groÃe Macht«, sagte er schlieÃlich. »Sonst wären sie gar nicht in der Lage, von einem einfachen Kanu aus so ein riesiges Tier mit der Harpune zu töten. Aber diese Macht wird ihnen von anderen geneidet. Manchmal wurden ein Walfänger und seine Familie verhext. Ich glaube, mein Vater ist verhext worden.«
Die letzten Worte klangen düster. Nun war es raus, was ihn schon seit einiger Zeit quälte. Aber auch wenn ich Javids Offenheit zu schätzen wusste, befremdete mich, was er da gesagt hatte. Wenn er vom Wassermonster Sisiutl, von Kupferfrau und unsichtbaren spirituellen Helfern erzählte, hatte ich nur Geschichten im Sinn gehabt. Doch nun musste ich begreifen, dass diese Geschichten ein Teil seines Lebens waren.
»Was deinem Vater passiert ist, war ein Unfall, Javid. Vielleicht hat er sich geirrt und in einem verrückten Augenblick genau das Falsche getan. Kein Mensch ist vollkommen, jeder irrt
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