Der Gesang der Orcas
einmal.«
»Aber vielleicht irre ich auch, wenn ich mich damit abfinde, dass es ein Unfall war.«
»Und was würde das ändern? Er ist tot, Javid«, sagte ich leise, sodass er es kaum verstehen konnte.
»Ja, er ist tot, verdammt noch mal, aber er verfolgt mich in meinen Träumen. Manchmal, in der Nacht, da steht er vor meinem Bett und ich kann hören, wie er zu mir spricht: >Denk an deine Verpflichtung, Javid<, sagt er. >Denk daran, dass du ein Nachfahre von Walfängern bist, das ist wie ein Versprechen. Du musst diese Tradition fortsetzen, du musst das Erbe deiner GroÃväter bewahren.<« Javid ballte seine Hände zu Fäusten, dass die Fingerknöchel weià hervortraten. »Dann verschwindet er wieder und ich kann nicht mehr schlafen.«
Endlich begriff ich ihn. »Du willst gar kein Walfänger werden, stimmtâs?«
»Ich weià es nicht, Copper. Das ist es ja. Ich weià es nicht. Ich will meinen Vater nicht enttäuschen, aber mein Traum ist ein anderer. Ich will studieren wie Tyler. Ich will mehr wissen, über das Meer, die Wale, ich ⦠ach verdammt, warum ist alles nur so kompliziert?«
»Hast du niemanden, mit dem du darüber reden kannst?«
Javid sah mich verwundert an. »Ich rede doch mit dir.«
»Glaubst du, dass ich die Richtige dafür bin? Ich kann dir nicht helfen. Du brauchst jemanden, der sich mit euren Traditionen gut auskennt. Jemand, der alt ist.«
»Aber du bist Kupferfrau.« Es klang verzweifelt. »Du hast eine alte Seele.«
»Ich hab bloà rote Haare, Javid. Begreif das doch endlich.«
»Vielleicht«, sagte er. »Aber mit dir kann ich reden. Weià auch nicht, warum.«
»Hast du schon mal mit deiner Mutter über das alles gesprochen?«
Javid nickte. »Ich habe es versucht. Sie hält nichts davon, dass ich in die FuÃstapfen meines Vaters trete und die Walfängertradition fortsetze. Ihr tun die Wale Leid. Du hast ja gehört, was sie gesagt hat.«
»Tun sie dir nicht Leid?«
»Doch, irgendwie schon. Aber da ist auch dieses Pflichtgefühl, das Gefühl, ein Makah zu sein und Verantwortung zu haben für das, was noch kommt. Aber nun hör auf zu fragen, Copper«, sagte Javid im gleichen Atemzug.
»Warum?«
»Mein Gehirn braucht eine Pause.«
Wir kamen an diesem Tag nicht mehr dazu, mit dem Bemalen des Kanus zu beginnen. Nach unserem Spaziergang zeichneten wir die Muster fertig an. Schweigend, denn geredet hatten wir genug. Auch mein Hirn brauchte eine Pause, um all das zu verarbeiten, was ich eben erfahren hatte. Ich war glücklich darüber, mit Javid arbeiten zu können, ohne reden zu müssen â ohne dass das Schweigen unangenehm wurde.
»Lass uns morgen weitermachen«, sagte er irgendwann. »Es ist schon spät und ich bin ein bisschen k. o. Hab nicht viel geschlafen letzte Nacht.«
Wir fuhren nach Neah Bay zurück, wo die nassen Wolken noch tiefer hingen als am Hobuck Beach. Mein Vater und Lorraine waren auch gerade zurückgekommen. Sie standen bei Freda im Büro und sprachen mit ihr, als wir den Raum betraten.
Ich hatte immer noch Javids Kittel mit den Farbklecksen an und Papa sagte: »Ich wusste gar nicht, dass du was für Rot übrig hast, Sofie. Wie war dein Tag? Bist du zufrieden mit dir?«
»Ja«, sagte ich.
»Zeigst du mir deine Bilder?«, bat Lorraine. »Ich bin wirklich neugierig darauf, was du gemalt hast.«
»Ich habe heute keine Bilder gemalt.«
Mein Vater horchte auf. »Dann ist der Kittel wohl nur Verkleidung?«, fragte er, einen scharfen Unterton in der Stimme. »Wo seid ihr denn gewesen?«
»Ich habe ⦠wir waren ⦠«Ich zögerte, weil ich nicht wusste, ob Javid gefiel,dass ich erzählte, was er in dem alten Schuppen machte. Vielleicht war es ein Geheimnis und er wollte nicht, dass ein anderer davon erfuhr, nicht einmal seine Mutter.
»Ich bin dabei, ein Kanu zu bemalen«, sagte er schlieÃlich mit genervter Stimme. »Sofie hat mir geholfen.«
Jetzt war mein Vater hellwach. »Du hast ein eigenes Kanu? Das ist wirklich interessant. Willst du damit an diesem Kanutreffen teilnehmen?«
»Vielleicht.«
»Ich würde dein Kanu gerne fotografieren.«
»Das geht nicht«, sagte Javid mürrisch. »Nicht, bevor es fertig ist.«
»Hast du es denn selbst gebaut?«
»Nicht ganz. Mein Vater hat damit angefangen und ich
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