Der Gesang der Orcas
herüber und gab mir einen langen Kuss.
19. Kapitel
M einem Vater erzählte ich, wir hätten den ganzen Tag am Kanu gearbeitet. Obwohl es schon Abend war, als wir ins Motel zurückkehrten, und meine Sachen nach Holzfeuer rochen, nahm er mir die Geschichte ab. Er vertraute mir und ich bekam Gewissensbisse, weil ich ihn belogen hatte.
Alles hat seinen Preis, dachte ich. Mir war klar, dass Papa mir niemals erlauben würde mit einem Schlauchboot aufs Meer hinauszufahren. Schon gar nicht, wenn er erfuhr, von wem wir da drauÃen Besuch bekamen.
Am darauf folgenden Tag war der Himmel grau und es nieselte. Obwohl kaum Wind herrschte, war das Meer unruhig und wechselte ständig seine Farbe. Aber mir war das Wetter recht, denn im Schuppen wartete noch eine Menge Arbeit auf uns.
Papa und Lorraine sah ich nur kurz zum Frühstück. Sie hatten sich wieder eine längere Tour vorgenommen und keiner von beiden versuchte mich zu überreden sie zu begleiten. Das Stammesfest rückte immer näher und ich hatte meinem Vater klargemacht, dass wir noch viel zu tun hatten, bis das Kanu fertig sein würde. Aus unerfindlichen Gründen schien Papa das zu akzeptieren.
Javid und ich arbeiteten den ganzen Vormittag ohne Pause am Kanu. Dann erlahmte meine rechte Hand und ich konnte den Pinsel nicht mehr halten. Javid ging es wohl ähnlich, denn auch er legte seinen Pinsel zur Seite und sagte: »Genug für heute.«
Nachdem wir die Pinsel gereinigt und alle Farbtöpfe geschlossen hatten, liefen wir zum Strand. Freda hatte uns ein groÃes Lunchpaket mitgegeben und wir setzten uns auf eine der verwitterten Baumruinen, um Mittag zu essen.
Es hatte zwar aufgehört, zu regnen, aber das Meer war immer noch in Aufruhr, besonders jetzt, wo die Flut einsetzte. Die Brecher wühlten den Sandboden auf, bevor sie ans Ufer schlugen. Der Lärm war unglaublich. Kaum zu begreifen, dass wir uns gestern noch mit einem kleinen Schlauchboot auf dieses Ungeheuer gewagt hatten.
Die Seeluft machte Appetit und wir aÃen unsere Sandwichs, die Freda mit kaltem Hühnerfleisch und Käse belegt hatte. Javid registrierte erleichtert, dass ich kräftig zulangte.
»Danke, dass du mir hilfst«, sagte er kauend. »SchlieÃlich bist du nicht zum Arbeiten hier.«
»Ich weià nicht, warum ich hier bin«, erwiderte ich. »Und ich empfinde es nicht als Arbeit. Es macht mir SpaÃ,das Kanu zu bemalen.« Weil ich gerne mit dir zusammen bin, wollte ich sagen, tat es aber nicht. Ich sagte es nicht, aber vielleicht konnte Javid es in meinen Augen lesen.
»Du würdest eine prima Indianerin abgeben, Copper«, meinte er lächelnd.
»Ich bin aber keine«, erwiderte ich.
»Nein«, sagte Javid. »Aber wir kommen doch trotzdem ganz gut zurecht, oder?« Er grinste und packte die restlichen Brote wieder in seinen Rucksack. Dann stand er auf und streckte seine Hand nach meiner aus. »Komm, lass uns zurückgehen. Sieht so aus, als würde es gleich wieder anfangen, zu regnen.«
Wir liefen zurück zur Siedlung, und als wir um den Schuppen bogen, stand ein Wagen davor. Es war Tyler McCarthys rostiger blauer Thunderbird. Die Schuppentür stand sperrangelweit offen. Javid lieà mich los, bevor er sein geheimes Refugium betrat. Drinnen war es dunkel, aber wir sahen Tyler reglos vor dem Kanu stehen. Er trug ein rotes Tuch auf dem Kopf und im Dämmerlicht des Schuppens sah er ziemlich verwegen aus.
Eine ganze Weile sagte niemand von uns etwas. Bis Tyler sich schlieÃlich rührte. »Das ist unglaublich, Mann. Wie hast du das bloà geschafft?«
Javid zog an der Strippe und die beiden Glühbirnen erhellten den Raum. Tyler blinzelte.
»Ich habe meinem Vater lange genug zugesehen«, sagte Javid. »Den Rest habe ich nachgelesen und mir angeeignet.«
»Was hast du damit vor?«
»Ich will die anderen Kanus begleiten, wenn sie Neah Bay wieder verlassen.«
Tyler nickte anerkennend. »Du warst schon immer ein guter Paddler. Trotzdem ist es verrückt.«
»Du warst auch ein guter Paddler, Tyler«, erwiderte Javid.
»Hab schon lange in keinem Kanu mehr gesessen.«
»Dann wird es Zeit.«
»Du meinst, ich kann ⦠ist das dein Ernst?« Tylers Augen begannen zu leuchten.
Javid hob die Schultern. »Warum nicht? Ich kann das Kanu schlieÃlich nicht alleine paddeln. Ich brauche einen zweiten Mann.«
Tyler machte einen Schritt auf Javid
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