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Der Gesang der Orcas

Der Gesang der Orcas

Titel: Der Gesang der Orcas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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zu, als wolle er ihn umarmen, aber dann legte er ihm nur die Hand auf die Schulter. »Ich werde mitkommen, alter Junge, ist Ehrensache.«
    Ich stand schweigend im Hintergrund, darauf gefasst, nun wirklich abgeschrieben zu sein. Das Kanu war Javids und mein Geheimnis gewesen. Nun wusste mein Vater davon, Freda und jetzt auch noch Tyler McCarthy, den ich immer noch nicht leiden konnte. Bald würde es ganz Neah Bay wissen.
    Tyler lief um das Kanu herum und berührte es ehrfürchtig. Mich schien er überhaupt nicht wahrzunehmen.
    Â»Hast du denn schon Paddel?«, fragte er.
    Javid schüttelte den Kopf. »Nein, Paddel habe ich noch nicht. Erst muss das Boot fertig werden, das ist das Wichtigste.«
    Nun wurde Javids Freund ganz aufgeregt. »Ich werde mich um Paddel kümmern«, sagte er. »Kannst dich auf mich verlassen.«
    Â»Okay.« Javid trat einen Schritt zur Seite, sodass Tyler mir nun direkt gegenüberstand. »Sofie hilft mir beim Bemalen des Bootes.«
    Â»Oh.« Tyler schluckte. »Ich verstehe. Ihr beiden wollt lieber allein sein.«
    Natürlich wollte ich lieber mit Javid allein sein, aber Tyler jetzt fortzuschicken wäre kindisch gewesen. »Wir sind sowieso fertig für heute«, hörte ich mich sagen.
    Â»Dann lasst uns zu mir fahren«, schlug Tyler vor. »Ich habe eine Menge neuer CDs, die du noch nicht gehört hast.«
    Ich hatte keine Lust, zu Tyler zu fahren, aber die Alternative wäre ein langweiliger Nachmittag im Motelzimmer gewesen, denn es hatte wieder zu regnen begonnen. Javid schloss den Schuppen ab, dann fuhren wir Tylers Thunderbird hinterher nach Neah Bay zurück. Das Haus, in dem Javids Freund wohnte, stand in einem der letzten Wohnviertel am Waldrand. Wilde Heckenrosen überwucherten eine alte Feuerwehr, die gleich neben dem Haus ihre letzte Ruhestätte gefunden hatte. »Sie gehört Grandpa«, sagte er entschuldigend. »Als sie ausrangiert wurde, musste er auch gehen. Waren beide zu alt für ihren Job.«
    Das Haus war noch nicht alt, aber die weinrote Farbe blätterte von den Brettern und das Schindeldach hatte eine Reparatur bitter nötig. Ein ausrangiertes Toilettenbecken stand neben dem Hauseingang, eingekeilt von einem Gestell mit verbogenen Bettfedern, einem alten Sessel, aus dem das Schaumgummipolster quoll, und Plastikeimern mit angetrockneter Farbe.
    Drinnen roch es nach angebrannten Kartoffeln.Als wir an der offenen Küchentür vorbeigingen, sah ich, wie sich der Abwasch in der Spüle und auf dem Tisch stapelte. Besonders anheimelnd war es nicht in Tylers Zuhause, aber Javid schien das nichts auszumachen.
    Tyler McCarthy führte uns zielstrebig in sein Zimmer am Ende des dunklen Flures. Es war nicht groß und ziemlich spartanisch eingerichtet. Ein Bett, ein Tisch mit zwei Sesseln, ein abgeschabter Kleiderschrank und ein Holzregal mit Büchern. Das Bett war ungemacht und Tyler legte schnell ein Webdecke darüber. Auf beiden Sesseln türmten sich Kleidungsstücke, die er in seinen Schrank stopfte. »Setzt euch doch!«, sagte er grinsend.
    Wir versanken in den Sesseln und Tyler ließ sich auf seinem Bett nieder. Er legte eine der CDs ein, die sich auf seinem Nachtschrank stapelten. Die raue Männerstimme sang eine traurige Ballade, ein Liebeslied. Das hatte ich nicht erwartet.
    Â»John Trudell«, klärte uns Tyler auf. Er nahm die CD-Hülle und zeigte uns das Cover. »Bonedays, sein neuestes Album.«
    Die Musik war ein Mix aus Country, Blues und indianischen Klängen. Was ich vom Text verstand, waren bittere Worte und schöne Bilder.
    Â»Seine Frau, seine drei Kinder und seine Schwiegermutter sind bei einem Feuer ums Leben gekommen«, erzählte Tyler. »Seitdem macht er Musik und schreibt Gedichte. Trudell ist ein verdammt guter Mann.«
    Ich versuchte mir vorzustellen, was dieser Mann verloren hatte. Und er lebte weiter, hatte einen Weg gefunden, seinem Schmerz und seiner Verzweiflung Ausdruck zu verleihen. Seine Musik erinnerte mich daran, dass wir selbst dafür verantwortlich waren, was aus unserem Leben wurde.
    Auf einmal fühlte ich mich gar nicht mehr so unwohl in Tylers Zimmer. »Kann ich euch zeichnen?«, fragte ich aus einer spontanen Eingebung heraus.
    Javid und sein Freund sahen sich einen Augenblick sprachlos an. Dann meinte Tyler grinsend: »Na klar, warum nicht?«
    Ich holte meinen Zeichenblock aus der Tasche und setzte mich in den

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