Der Gesang der Orcas
beinahe zu einer Katastrophe gekommen. Fast jeden Monat wird der Küstenwache die Havarie eines gröÃeren Schiffes hier vor der Küste von Oregon oder Washington gemeldet. Bisher konnte der in Neah Bay stationierte Schlepper Barbara Foss Schlimmeres verhindern, aber nun soll das Schiff aus dem Ort abgezogen werden.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte ich, inzwischen keuchend vor Anstrengung, denn Lorraine hatte einen flotten Schritt. »Wieso wollen sie das Schiff abziehen, wenn es doch dauernd gebraucht wird?«
»Ganz einfach. Die Barbara Foss wird vom Staat Washington unterhalten. Für jeden weiteren Tag, die sie am Eingang der SeestraÃe stationiert ist, zahlt der Gouverneur 7 000 Dollar. Das passt ihm natürlich nicht und so versucht er den Nutzen des Schleppers für die Region herunterzuspielen. Was sind schon 4 000 Liter Altöl und ein driftender Tanker mit 30 000 Litern Heizöl an Bord vor einer Küste, an der sowieso nur Indianer leben?«
»Und Wale«, sagte ich japsend.
»Ja, Wale auch, und Robben und seltene Vögel. Fisehe, Muscheln und Pflanzen.« Lorraine hielt einen Zweig fest, damit er mir nicht ins Gesicht schlug. »Damals, vor zwölf Jahren, als der Ãltanker Exxon Valdez vor Alaska auf ein Riff lief, wurde ich hingeschickt, um eine Reportage zu schreiben. Es war mein erster groÃer Auftrag. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich die Sache nicht vergessen kann: Zweitausend Kilometer schwer verschmutzte Küste, tausende tote Seeotter und hunderttausende tote Vögel kann man nicht so einfach verdrängen. Da gibt es Langzeitschäden, die bis heute niemand absehen kann. Viele Tierbestände haben sich seit dem Unfall noch nicht wieder erholt. Darunter Seehunde, Schwertwale und verschiedene Vogelarten. Die giftigen Ãlrückstände haben sich in manchen Pflanzen und Muscheln angereichert, die wiederum anderen als Nahrung dienen. Schon kleinste Mengen Ãl können zu Missbildungen im Erbgut von Heringen und Lachsen führen.«
Ich war beeindruckt. »Du weiÃt eine ganze Menge über solche Dinge.«
»Es ist mein Spezialgebiet«, sagte Lorraine.
»Vor der Küste hält sich eine kleine Orcaschule auf«, erzählte ich ihr. »Es sind Transients , Durchreisende. Eine Walkuh ist trächtig, wahrscheinlich wird sie ihr Junges bald zur Welt bringen. Ich fürchte, das ausgelaufene Altöl könnte ihnen gefährlich werden.«
»Deine Sorge ist berechtigt«, antwortete Lorraine. »Wissenschaftler haben in der Unterhautfettschicht von Transient -Schwertwalen eine Höchstkonzentration von chemischen Giftstoffen festgestellt. DDT und PCB sind industrielle Chemikalien, die in Amerika inzwischen verboten sind, in vielen asiatischen Ländern aber weiterproduziert und -verwendet werden. Es dauert ungefähr eine Woche, bis der Wind sie von dort an die amerikanische Küste trägt. Inzwischen weià man, dass PCB mit der Muttermilch übertragen wird und die Bildung von Vitamin A verhindert, was sich alarmierend negativ auf die Ãberlebensrate der Schwertwalkälber auswirkt.« Lorraine blieb stehen und drehte sich zu mir um. »Sie sind also sowieso schon stark belastet. Deshalb stehen ihre Chancen schlecht, wenn sie in den Ãlteppich geraten oder verseuchte Fische fressen.«
»Javid und ich, wir wollen versuchen sie zu verjagen«, vertraute ich ihr in einem Anflug unerwarteter Sympathie an.
»Wie wollt ihr das denn anstellen, bei diesem Nebel? Mit eurem Schlauchboot?«
Ich musterte Lorraine eindringlich, suchte nach Zeichen von Spott in ihrem Gesicht oder im Klang ihrer Stimme. Aber da war nur unerwartetes Mitgefühl.
»Das Schlauchboot ist kaputt, der Motor hat was abgekriegt«, sagte ich resigniert.
»Euer kleines Abenteuer war wohl doch nicht so harmlos, wie Javid es geschildert hat, hm?«
Mit zusammengekniffenen Lippen schüttelte ich den Kopf.
Sie lächelte und lief weiter. »Na, lass das bloà nicht deinen Vater wissen. Er ist wirklich sauer auf dich und deinen Freund.«
»Glaubst du, er wird mich die restlichen Tage zwingen ihn beim Fotografieren zu begleiten?«
Wir hatten den Parkplatz erreicht und Lorraine schloss den Wagen auf. »Er hat davon gesprochen und ich habe versucht es ihm auszureden. Du bist zu alt für solche ErziehungsmaÃnahmen. Aber«, sie drohte mir mit dem Zeigefinger, »wehe, du erzählst deinem
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