Der Gesang der Orcas
einfach deinen Gefühlen.«
»Warst du überhaupt nicht böse auf Javid?«, fragte ich sie. »Hattest du keine Angst, das Meer könnte ihn holen wie â¦Â«
»Wie seinen Vater, meinst du?« Sie schüttelte den Kopf. Ihre freundliche Stimme zögerte kurz. »Nein, ich war nicht böse auf ihn. Ich habe mir groÃe Sorgen um euch beide gemacht, aber ich wusste auch, dass Javid nichts Unüberlegtes tun würde. Er hat mir versprochen nicht zu ertrinken und Javid hält seine Versprechen.« Auf einmal sah sie mich seltsam an und fragte: »Hat er dir von seinem Vater erzählt?«
»Ja«, sagte ich. »Er hat mir erzählt, dass er ein Walfänger war und beim Fischfang ertrunken ist. Er vermisst ihn.«
»Ich weiÃ.Ich vermisse ihn auch. Und doch muss es ohne ihn weitergehen. Ich habe gelernt dankbar dafür zu sein, dass ich ihn kennen lernen durfte und er mir einen Sohn geschenkt hat.«
»Hast du mal daran gedacht, wieder zu heiraten?«, fragte ich.
Freda sah mich merkwürdig an und sagte nichts.
»Tut mir Leid«, stotterte ich. »Ich hätte das nicht ⦠es war falsch, dich â¦Â«
»Schon gut«, unterbrach sie mein Gestammel. »Natürlich denke ich manchmal darüber nach. Aber bisher hat es kein Mann geschafft, mein Herz zu erobern. Es ist noch bewohnt, weiÃt du?« Sie lächelte traurig.
»Mein Vater hat sich ziemlich schnell getröstet.«
»Und nun bist du gekränkt, weil du das Gefühl hast, er hätte deine Mutter verraten.«
»Sie ist erst im Februar gestorben.«
»Ich weië, sagte sie. »Er hat mir davon erzählt.«
»Er hat es dir erzählt?«
»Ja. Dein Vater brauchte jemanden zum Reden und ich habe ihm zugehört. Er hat deine Mutter sehr geliebt, Sofie. Aber manchmal ist die Einsamkeit gröÃer als die Liebe zu einem Menschen, der nur noch in unserer Erinnerung lebt.«
Javid kam spät zurück und ich saà immer noch mit seiner Mutter in der Küche. Sie wärmte ihm das Essen in der Mikrowelle auf und er erzählte, dass er mit Hilfe seines Freundes Tyler das Schlauchboot geflickt hatte. »Allerdings hat der Motor doch was abgekriegt. Wenn der Nebel sich verzogen hat, muss ich Onkel Henry bitten das Boot mit mir zu holen.«
»Wie geht es Tylers GroÃvater?«, fragte Freda.
»Ganz gut. Er ist wieder zu Hause und läuft ein paar Schritte jeden Tag«, sagte Javid kauend. »Tyler sagt, er hätte die Operation und auch den Krankenhausaufenthalt gut überstanden.« Dann wandte er sich an mich. »Ich habe mit dem Parkranger gesprochen, der uns gefunden hat. Er sagt, die Tiguna Pass, der chinesische Tanker, driftet stündlich vier Meilen näher an die Küste heran. Im Hafen von Neah Bay liegt ein Schleppdampfer bereit,der den Tanker in die SeestraÃe von Juan de Fuca schleppen soll. Aber bei diesem Nebel und dem unruhigen Wasser kann der Dampfer nicht auslaufen und auÃerdem wäre es unmöglich, das Schlepptau am Tanker zu befestigen. Ein Hubschrauber der Küstenwache steht bereit, um den Ãlteppich mit Chemikalien zu besprühen, damit sich das Zeug schneller auflöst. Aber er kann auch nicht fliegen, der Nebel ist einfach zu dicht.« Er klang resigniert.
»Sind Chemikalien für die Tiere nicht genauso gefährlich wie das Altöl?«, fragte ich.
Javid hob die Schultern. »Das habe ich Hank auch gefragt, aber er sagte, das Ãl wäre gefährlicher. Die Chemikalien sind wasser- und fettlöslich, hat er mir erklärt. Sie setzen die Oberflächenspannung des Wassers herab, dadurch sinkt das schwere Ãl in die Tiefe.«
»Es ist also nicht wirklich weg, nur nicht mehr sichtbar«, bemerkte Freda mit gerunzelter Stirn.
»So ungefähr.«
»Der Fish & Wildlifeservice hat ein Fischfangverbot ausgesprochen, solange niemand sagen kann, wie groà der Schaden wirklich ist«, eröffnete sie uns. »Also wird es erst einmal keinen Fisch mehr geben.«
»Ach, deshalb die Hühnerbeine«, brummte Javid müde.
Einige Zeit später, es war kurz vor Mitternacht, stand mein Vater in der Tür und bestand darauf, dass ich ins Bett ging, damit ich am nächsten Tag ausgeschlafen sein würde. Ich protestierte nicht, weil es nichts gebracht hätte als weiteren Ãrger. Ich bedankte mich bei Freda für das köstliche Essen und gab Javid vor aller Augen einen Kuss
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