Der Gesang der Orcas
einfach abzuhauen und mich irgendwo zu verstecken. Sollte er doch allein nach Deutschland zurückkehren und ausprobieren, wie es war, niemanden zu haben.
Gegen Mittag kehrte die Victoria in den Hafen zurück. Meine Enttäuschung war groÃ,als Javid mir erzählte, dass er die Wale nicht gesehen hatte. »Sie waren nicht da, Copper«, sagte er. »Ich habe mit dem Fernglas das ganze Meer abgesucht. Vielleicht haben sie die Gefahr erkannt und sind weitergezogen.«
Tyler und Javid machten sich gleich daran, den Motor zu reparieren, während ich in ihrer Nähe saà und versuchte die Orcas aus dem Gedächtnis zu malen. Ich lauschte den merkwürdigen Witzen der Jungs, die ich manchmal nicht verstand, weil ich keine Makah war. Trotzdem fühlte ich mich nicht ausgeschlossen. Manchmal zwinkerte Tyler mir mit ölverschmiertem Gesicht zu und ich zwinkerte zurück.
War ich eine andere geworden?
Am Abend erreichte die Barbara Foss mit dem chinesischen Tanker im Schlepp den Eingang der SeestraÃe von Juan de Fuca. Mit vielen anderen sahen wir zu, wie die beiden Schiffe sich langsam in Richtung Port Townsend bewegten, wo der Tanker wieder flottgemacht werden sollte. Die Katastrophe war noch einmal abgewendet worden, die unberührten Strände der Makah-Indianer blieben von einer Ãlpest verschont. Das Fischfangverbot wurde aufgehoben, nachdem der Fish & Wildlifeservice Entwarnung gegeben hatte.
Die Makah-Fischer fuhren wieder hinaus aufs Meer und im Ort begannen die Vorbereitungen auf das Stammesfest. Freda putzte mit Alishas Hilfe das Motel, um auf die Gäste, die sie erwartete, gut vorbereitet zu sein. Lorraine arbeitete an ihrem Artikel über den Tankerunfall. Sie wollte den Gouverneur des Bundesstaates Washington dazu bewegen, den Schlepper Barbara Foss noch eine lange Zeit in Neah Bay zu stationieren, weil er dort offensichtlich dringend gebraucht wurde.
Mein Vater fotografierte, und wenn er keine Kamera in der Hand hatte, dann war er mit Lorraine beschäftigt. Die beiden waren wie Turteltauben und eigentlich hätte sich das positiv auf sein Verhalten mir gegenüber auswirken müssen. Aber da ich ihn weitgehend ignorierte und ihm aus dem Weg ging, besserte sich unser Verhältnis kein bisschen.
Er konnte mich nicht einsperren und mich auch nicht zwingen ihn ständig auf seinen Fototouren zu begleiten. Deshalb blieb Javid und mir genug Zeit, in der wir zusammen sein konnten. Wir küssten uns jetzt manchmal vor den Augen der anderen, auch das konnte Papa mir nicht verbieten.
Am Mittwoch vor dem Fest beendeten wir die Pinselarbeiten am Kanu. Der Donnervogel war fertig, das Kanu war fertig. Es sah wunderschön aus und wir fielen uns vor Freude darüber, dass wir es geschafft hatten, in die Arme.
Aber Javids Perfektionismus lieà ihn noch einige Zeit an den Paddeln herumschleifen, die Tyler geschnitzt hatte. Nach Javids Vorstellungen hatten sie immer noch nicht die richtige Form.
»Wenn ich damit drauÃen auf dem Meer bin«, sagte er, »habe ich sie ständig in der Hand. Ich verbringe viel Zeit mit ihnen und muss mich auf sie verlassen können.«
Ich bewunderte seine akribische Geduld, wo ich doch wusste, dass die Paddel auch noch mit Lack versiegelt werden mussten, und zwar mehrmals.
Als wir später unseren täglichen Spaziergang am Strand machten, befiel mich plötzlich dieses klägliche Gefühl von nahendem Abschied. Unsere gemeinsamen Tage waren gezählt. Nur noch vier, das war nicht viel. Traurigkeit schnürte mir die Kehle zu und ich glaube, Javid fühlte dasselbe wie ich. Die Vorstellung, dass wir in Zukunft ohne den anderen auskommen mussten, war uns beiden unerträglich.
»Nur noch vier Tage«,sagte ich leise und drückte seine Hand fester.
Javid blieb stehen und küsste mich. »Ach, Copper«, sagte er seufzend, »ich könnte dich â¦Â«
»Was?«
Seine Augen funkelten sehnsüchtig. »Ich wünschte, ich könnte dich hier behalten«, sagte er schlieÃlich und ich ahnte, dass es nicht das war, was er zuerst sagen wollte.
Wir umarmten uns, klammerten uns aneinander wie Ertrinkende. »Mein Vater benimmt sich schrecklich kindisch und ich habe nicht die geringste Lust, mit ihm zusammen zu sein. Was soll das bloà werden?«
»Das gibt sich, glaub mir«, sagte Javid. »Wenn ihr erst wieder in Deutschland seid und ich keine Gefahr mehr für dich bin.«
Nun musste ich doch
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