Der Gesang der Orcas
Donnervogels musste noch auf die beiden Seiten des Bugs gemalt werden. Wir machten uns gleich an die Arbeit.
Es war nicht leicht, wieder mit Javid zusammen zu sein und mit ihm zu arbeiten. Seit jener Sturmnacht hatten wir uns nur kurz gesehen und kaum geredet. Jetzt fiel es uns beiden schwer, wieder damit anzufangen. Ich hatte das Gefühl, als würde Javid etwas bedrücken. Vielleicht war es das ungewisse Schicksal der Orcas, vielleicht war es aber auch etwas anderes.
»Was ist denn los?«, fragte ich schlieÃlich.
»In einer Woche ist das Stammesfest«, antwortete Javid niedergeschlagen. »Wenn wir keine Fische fangen dürfen und unsere Küste ölverseucht ist, kommen die Kanus vielleicht nicht.«
»Wirklich?« Erschrocken sah ich ihn an.
»Na, was denkst du denn? Es sollte ein groÃes Ereignis werden, etwas, das anderen Stämmen Hoffnung schenken soll. Wenn unsere Strände ölverseucht sind, war alles umsonst. Auch unsere Arbeit am Kanu«, sagte er. Die Bitterkeit in seiner Stimme machte mir Angst.
»Nein«, protestierte ich. »Das darf nicht sein. Du hast das Kanu fertig gebaut und bemalt. Es wird wunderschön und es ist dein Kanu.«
»Ich tue es für meinen Vater.«
»Nein, Javid«, widersprach ich ihm. »Du tust es für dich.«
Er sah mich mit seinen groÃen schwarzen Augen an und sagte: »Du gibst wohl niemals auf, was?«
»Das hab ich von dir gelernt«, flüsterte ich.
Später gingen wir zum Strand, um frische Luft zu atmen und ein Stück zu laufen. Der Nebel wallte in dichten Schwaden über die Tangberge. Eifersüchtig hüllte er alles ein und lieà keinen Blick auf das Meer zu, wo die Tiguna Press immer noch gen Strand driftete und in den flacheren Küstengewässern auf ein Riff zu laufen drohte.
Wie blind standen wir am Küstenstreifen, lauschten vergeblich auf die vertrauten Kreischlaute der Orcas, wenn sie Lachse jagten oder spielten. Vielleicht waren sie längst fort und wir machten uns umsonst Sorgen. Aber mein Gefühl sagte mir, dass sie noch da waren, irgendwo da drauÃen. Und dass sie in groÃer Gefahr waren.
Javids Hand war warm und fest und so konnte ich nichts dagegen tun, dass ich mich gut fühlte. Ich war glücklich, trotz der groÃen Bedrohung, die da drauÃen im Nebel verborgen lag. Obwohl ich groÃen Ãrger mit meinem Vater hatte und obwohl unser Abreisetag grausam schnell näher rückte, war ich glücklich. Was war bloà los mit mir?
26. Kapitel
E s dauerte eine Weile, bis ich begriff, wo ich war. Ich hatte von meiner Mutter geträumt und ihr von Javid erzählt. Als ich wach wurde, schien alles leichter. Mein Zimmer war heller als an den vorangegangenen Tagen. Ich stand auf und sah aus dem Fenster. Der Nebel war nicht mehr grau, sondern weià und leicht. Wenig später zog er in gespenstischen Schwaden die bewaldeten Berge hinauf, wo die Sonne ihn endgültig verschluckte. Klar und friedlich lag Neah Bay im strahlenden Sonnenschein und ich fand den Ort auf einmal wunderschön â als hätte der Nebel alles Trostlose mit sich genommen.
Nach dem Frühstück liefen Javid und ich zum Hafen. Die Hälfte der Bewohner hatte sich dort versammelt, um den Schlepper Barbara Foss auslaufen zu sehen. Am Morgen hatten wir die gute Nachricht im Radio gehört: Der Wind hatte in der Nacht gedreht und den Tanker wieder ein Stück auf das offene Meer hinausgetrieben. Auch der Ãlteppich, der inzwischen aus verklumpten schwarzen Teerstücken bestand, war von der Küste weggetrieben und von den Strömungen weiter drauÃen verteilt worden. Nun war es wenigstens nicht mehr notwendig, den Hubschrauber mit den Chemikalien einzusetzen.
Was blieb, war die Sorge um unsere Orcas. Javid nervte seinen Onkel Henry so lange, bis er mit der Victoria nach Ozette rausfuhr und mit ihm und Tyler das Schlauchboot barg. Ich wäre so gerne mitgefahren, aber in diesem Fall lieà sich mein Vater nicht erweichen. Auch Lorraines und Fredas Ãberredungskünste versagten. Er blieb hart und ich musste zähneknirschend mit ansehen, wie die Victoria ohne mich ablegte.
Insgeheim hatte ich gehofft auf dieser Fahrt die Orcas vielleicht noch einmal zu sehen und mich von ihnen zu verabschieden. Es wäre die letzte Möglichkeit gewesen und mein Vater hatte sie mir mit einem einzigen sturen »Nein« zunichte gemacht. Zum ersten Mal dachte ich daran,
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