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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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in das Licht der Scheinwerfer trat, erkannte Speedi, was da in der Hand des rechten Arms baumelte.
    «Scheiße», flüsterte er und tat einen Schritt rückwärts. Im Rücken spürte er den warmen Kühlergrill seines MAN . Es war zu spät. Er würde es nicht mehr schaffen. Und was nützte es auch, sich im Führerhaus zu verschanzen? Die Windschutzscheibe bestand nicht aus Panzerglas. Da ging eine Kugel durch, als wäre es ein Blatt Löschpapier.
    Die Gestalt war schnell heran. Jetzt hob sich der Arm mit der Waffe am Ende und zielte auf Speedi. Er presste sich so dicht an den Kühlergrill wie möglich, wäre beinahe darin verschwunden.
    «Hey, Mann, ich …» Obwohl ihm nichts Derartiges befohlen wurde, hob Speedi beide Hände in Gesichtshöhe.
    «Schn… Schn… Schnau…ße halten!»
    Der Revolver zeigte auf sein Gesicht. Die Hand des großen Mannes zitterte stark, trotzdem hatte Speedi keinen Zweifel, dass eine abgefeuerte Kugel ihn treffen würde.
    «I… i… ich ahr… it.»
    Der Mann trat noch einen Schritt vor. Speedi bekam dessen Gesicht zu sehen, und plötzlich war die Waffe nicht mehr so wichtig. «Großer Gott», stammelte er und pisste sich in die Hose. Dass es feucht und warm wurde in seinem Schritt, bemerkte er nicht mal. Wie gebannt starrte er auf das, was irgendwann mal ein Gesicht gewesen war. In dieser Sekunde, bevor der Mann erneut sprach, wurde Speedi mehr als deutlich klar, dass er den Tag nicht überleben würde. Diese Erkenntnis fraß sich tief in seine Eingeweide und öffnete alle Schleusen.
    «Steig ein», sagte der große Mann, und es klang wie «eig ei». Mit seinen Lippen stimmte was nicht. Sie wirkten merkwürdig verschoben und aufgequollen. Dennoch lag genug Schärfe in der Stimme, um Speedi gehorchen zu lassen. Er löste sich vom Kühlergrill. Ohne den Fremden aus den Augen zu lassen, stieg er die Stufen zur Kabine hoch.
    Es folgte ein Moment, der bei allem, was später noch passieren sollte, einmalig blieb: die einzige und letzte Chance für Speedi, sich aus dem Staub zu machen. Während er schon hinter dem Steuer saß (und der Motor dröhnte noch im Leerlauf), quälte der Fremde sich mit ungelenken Bewegungen zur Beifahrertür hinauf. Speedi hätte nur Gas geben müssen. Doch das tat er nicht. Er registrierte nicht mal, welche Möglichkeit ihm durch die Lappen ging. Und warum auch? Ein Blick in dieses «Gesicht» hatte ihn ja längst mit seinem Leben abschließen lassen.
    Als der Fremde sich auf den Beifahrersitz fallen ließ, war es zu spät. Die monströs wirkende Waffe wurde erneut auf ihn gerichtet.
    «Nach hangurg.»
    «Was?»
    «ahr nach hangurg, du löde Sau.» Während er noch sprach, holte der Fremde aus und schlug Speedi die Waffe ins Gesicht. Der harte Stahl traf ihn am Wangenknochen. Die Haut platzte auf, Blut schoss hervor. Sein Kopf schleuderte gegen die Seitenscheibe. Speedi heulte auf wie eine Sirene.
    Der Fremde spannte deutlich hörbar den Hahn. «Los.»
    Speedi versuchte die Schmerzen in seinem Gesicht zu vergessen. Trotz der merkwürdigen Aussprache hatte er jetzt verstanden, wohin der Mann wollte: Hamburg, er sollte ihn nach Hamburg fahren.
    Also kuppelte er, legte den Gang ein, trat aufs Gaspedal und begann seine letzte Fahrt.

9
    Die Erinnerung war präsent, sobald sie die Tür zum ehemaligen Stall öffnete. Die einzige Spur einer Geschichte, das einzige Relikt aus einer Zeit, in der andere Menschen dieses Haus bewohnt hatten. Viele Male hatte sie den Kinderwagen und die Fahrräder hinein und hinaus geschoben, an die gerade noch zu erkennende Form eines Rades hinter dem Holzhaufen hatte sie aber nicht mehr gedacht. Toms Tod hatte alles andere in den Hintergrund gedrängt, und das wäre auch noch eine ganze Weile so geblieben, hätte Hanna mit ihrer Geschichte die Erinnerung nicht erneut geweckt. Seit sie von dem Scherenschleifer wusste, konnte Kristin an nichts anderes mehr denken. Mochte Ilse doch scheel gucken, na und? Wenn sie in ihrem Stall aufräumen wollte, dann wollte sie in ihrem Stall aufräumen. Basta!
    Kristin musste trotz des frühen Morgens Licht einschalten. Der Himmel war von grauen Wolken lückenlos überzogen. Sie schienen das Licht gestohlen zu haben. Alles, was sie der Erde ließen, war ein trübsinniges, schmutziges Etwas, mehr dunkel als hell. Mit einem Blick auf das beleuchtete Küchenfenster, hinter dem Ilse die Spülmaschine einräumte, zog Kristin die Stalltür hinter sich zu. Da lag er. Der Holzberg. Seit dem letzten Mal schien er noch

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