Der Gesang des Blutes
Wichtiges, das sich ihr förmlich aufdrängte.
«… und als es dann endlich zu schneien begann, liefen alle Kinder hinaus und bestaunten die wunderschönen bunten Lichter an dem großen Weihnachtsbaum vor der Kirche. Ende.»
Lisa gähnte. Ihre Augen waren zwar groß, die Pupillen aber ganz klein. Es kostete sie Mühe, sich wach zu halten. Sie kämpfte gegen den Schlaf.
«Haben wir zu Weihnacht auch einen großen Baum draußen. So einen wie in Hamburg? Der war toll.»
Kristin klappte das Buch zu und legte es zur Seite. «Ich weiß nicht. Vielleicht.»
«Ohne Papa schaffen wir es nicht.»
Kristin erstarrte in der Bewegung. Alle Gedanken an die Geschichte vom Scherenschleifer waren plötzlich verschwunden. Hatte sie das eben richtig verstanden?
«Wie kommst du denn darauf, Träumerchen?»
Lisa sah sie aus ihren grünblauen Augen an. Eine Mischung aus Toms und ihren, die je nach Lichteinfall mehr grün oder blau erschienen. «Na, wegen der so schwer ist.»
Kristin versuchte sich zu konzentrieren. Sie verstand nicht, was Lisa sagen wollte. «Was meinst du?»
«Der Baum. Ohne Papa können wir keinen Weihnachtsbaum aufstellen. Der ist doch viel zu schwer!»
Kristin beugte sich über ihre Tochter und drückte ihr einen langen Kuss auf die Stirn. Sie wollte nicht, dass die Kleine die Tränen in ihren Augen sah.
«Das schaffen wir schon, wir holen uns Hilfe. Mach dir keine Sorgen, Träumerchen, wir schaffen das ganz bestimmt.»
Worte wurden nicht glaubhafter, je öfter man sie wiederholte. Das hatte Kristin seit Toms Tod gelernt. Für Lisa mochten sie wohl überzeugend klingen, aber Lisa war ein Kind. In ihren eigenen Ohren klangen diese Worte wie ein Farce, und eben war sich Kristin sicher gewesen, dass ihre Kleine sie durchschaut und die Wahrheit erkannt hatte. Sie würden es ohne Tom nicht schaffen, nichts von dem, was sie sich vorgenommen hatten. Doch Lisa hatte nur den Weihnachtsbaum gemeint, nur den Baum.
«Und jetzt schlaf ganz schnell ein, mein Schatz.»
Kristin küsste Lisa noch einmal, löschte das Licht und verließ das Zimmer. Normalerweise dauerte diese Prozedur länger, und sie wäre danach ins Wohnzimmer hinuntergegangen, um sich mit Ilse zu unterhalten, die vor dem Fernseher saß. Aber was war noch normal in ihrem Leben?
Kristin ging in ihr Zimmer, wickelte sich auf ihrem Bett in eine Decke ein und weinte.
Als die Tränen irgendwann versiegten, kehrten die Gedanken zurück. Kristin wollte sich nicht mit ihnen beschäftigen, wollte nichts wissen von traurigen Mordgeschichten aus alten Zeiten, wollte eigentlich überhaupt nicht nachdenken. Doch sie konnte sich nicht dagegen wehren. Die Daunendecke hochgezogen bis zum Kinn, lag sie da und lauschte, versuchte sich auf die Geräusche des Hauses zu konzentrieren, um die Gedanken zu vertreiben. Denn still war das Haus nur, wenn man nicht genau hinhörte. Tom hatte sie über solche Geräusche aufgeklärt; sie wusste, dass Fundamente sich setzen konnten, dass Holzbalken an Holzbalken rieben und die Dachpfannen sich bewegten, wenn es draußen abkühlte. Trotzdem glaubte Kristin manchmal, unter all diesem Geknarre und Geknarze und all diesem Reißen, Schieben und Schütteln Stimmen zu hören. Schließlich konnten sich reibende Balken kaum «Ich bin wieder hier» rufen, oder?
Die Geschichte vom Scherenschleifer. Warum hatte Hanna Wittmershaus ihr überhaupt davon erzählt? Sie musste sich doch vorstellen können, dass sie abends allein im Bett lag und …
Plötzlich stellte Kristin eine Verbindung her, die ihr am Nachmittag nicht aufgefallen war. Diese diffuse, bedeutsame Stelle in Hannas Erzählung. Dieses Festhalten ihrer Gedanken an einem bestimmten Punkt, den sie bisher nicht erkannt hatte. Jetzt ergab es einen Sinn.
Die Scherenschleifer. Sie waren mit Handwagen unterwegs. Mit Handwagen oder Pferdegespannen. Und die Spur seiner Räder hatte man damals leicht verfolgen können.
8
Dietmar Spiedowski, von seinen Truckerkumpels am anderen Ende des CB -Funks schlicht und ergreifend «Speedi» genannt, hatte in einundzwanzig Jahren auf dem Bock einiges gesehen, noch mehr gehört, und auf vieles hätte er gern verzichtet. Auf diesen Tag auch, aber das wusste er noch nicht, als er gegen sechs in der Früh seinen Vierzig-Tonner über die kurvigen Straßen des Harzes lenkte.
Irgendwo am Horizont hatte es vielleicht schon zu dämmern begonnen. Die schmalen Straßen zwischen den Bergen waren jedoch noch in schwarze, feuchte Dunkelheit getaucht. Ein
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