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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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Mistwetter. Schon seit Tagen. Nachts sternenklarer Himmel, sobald sich der Tag näherte, Regen. Das schlug einem auf die Laune. Nicht dass Speedi sich besonders darüber aufregte, aber es kotzte ihn schon an. In der großen Tasse vorn auf der Ablage schwappte schwarzer Kaffee. Sein Gefährte auf langen Fahrten durch die Nacht, sein Schutz vor tödlichem Sekundenschlaf. Speedi litt unter Bluthochdruck. Eigentlich durfte er keinen Kaffee trinken, höchstens den ohne Koffein. Aber mal ehrlich: Was nützt einem eine Waffe ohne Munition? Und was wussten schon die Ärzte, die nachts gemütlich in ihren Betten ratzten? Speedi konnte es sich aussuchen: entweder starken Kaffee und irgendwann am Herzinfarkt sterben, oder Mineralwasser und ganz sicher demnächst einen strammen Eichenbaum küssen. Scheiß drauf! Er trank Kaffee, seit Jahr und Tag, und dabei blieb es auch.
    Als nach einer haarigen Kurve eine längere Grade folgte, beugte er sich vor und ergriff den Becher. Der erste Schluck schmeckte bitter, der Kaffee war nicht mehr ganz heiß. Der zweite war schon besser. Als er die Tasse wieder in den Halter stellen wollte, warf er dabei einen flüchtigen Blick durch die Windschutzscheibe.
    «Verdammte Scheiße!»
    Speedi ließ den Becher fallen. Kaffee spritzte übers Cockpit und ihm auf die Hose. Gleichzeitig klammerte er sich ans Lenkrad und trat mit aller Kraft aufs Bremspedal. Seine rechte Hand flog zum Schalthebel und kuppelte aus. Hinter ihm schoben zwanzig Tonnen Weißzucker und wollten nichts von Verzögerung oder Hindernissen auf der Fahrbahn wissen.
    Da stand jemand!
    Verfluchte Scheiße und halleluja! Da stand jemand winkend auf der Straße. Eine dunkel gekleidete Gestalt auf einer noch dunkleren Fahrbahn. Konnte der Kerl sich nicht denken, dass man ihn erst im allerletzten Moment sah? Erst dann, wenn die Scheinwerfer ihn erfassten? Und ein solches Wetter wie an diesem Morgen fraß das Licht praktisch auf.
    Mit der Kraft der Verzweiflung hielt Speedi das Lenkrad fest und steuerte gegen den Willen des Aufliegers, nach links auszuscheren. Die Straße war gerade breit genug für zwei Autos, und links lauerte ein Abgrund, dessen Tiefe Speedi nur erahnen konnte. Zwar war er mit einer Leitplanke gesichert, aber hey, das war ein Witz, oder? Fast dreißig Tonnen Stahl und Zucker ließen sich von einer blöden Leitplanke nicht aufhalten.
    Speedis Glück (oder Pech?) war an diesem Morgen, dass er nach der scharfen Kurve kaum Geschwindigkeit aufgenommen hatte. Der Auflieger mit Zucker schob zwar, und er hörte die Paletten gegen die vordere Ladewand krachen, doch er bekam seinen Truck unter Kontrolle. Die hintere Stoßstange touchierte ganz leicht die Leitplanke. Es stoben ein paar Funken, eine Begrenzungsleuchte riss ab – dann stand er. Die ganze Straße blockierend, und mit einem Fahrer hinter dem Steuer, dem die Augen vor Wut aus den Höhlen quollen.
    Verdammter Irrer! Verdammter gehirnamputierter Irrer!
    Speedi riss die Fahrertür auf und sprang auf die Fahrbahn hinunter. Die Gestalt stand noch an der gleichen Stelle mitten auf der Fahrbahn. Sie war groß und dunkel, das war aber auch schon alles, was Speedi aus einer Entfernung von fünf bis acht Metern erkennen konnte.
    Vor zwei Sekunden hatte Speedi vorgehabt, dem Typen seine Fressleiste zu polieren. Und zwar mit Schmackes! Nach einer Tasse Kaffee war das genau die richtige Therapie zum Abreagieren. Als er jetzt aber neben dem mächtigen Kühlergrill seines Trucks stand, war er sich nicht mehr so sicher. Irgendwas stimmte mit dem Kerl nicht. Gut, okay, wer um sechs in der Früh auf einer abgelegenen Straße stand, mit dem musste zwangsläufig etwas nicht stimmen. Aber das, was Speedi spürte, ging weit darüber hinaus. Da war Gefahr. Und zwar für ihn.
    Speedi bewegte sich nicht. Er kniff die Augen zusammen und versuchte etwas zu erkennen. Plötzlich wusste er, dass es ein Fehler war, den Typen anzurufen. Halt den Mund, dachte Speedi, halt einmal in deinem Leben den Mund und mach dich vom Acker. Ja, das hatte er vor, beim Grab seiner Mutter, einfach einsteigen, die Türen verriegeln und Gas geben. Scheiß auf die Figur da vorn. Aber Speedis Mund machte wieder mal, was er wollte.
    «Mann, was soll die Scheiße? Ich hätte dich fast platt gemacht.»
    Als sei das der erwartete Startschuss, bewegte sich die Gestalt plötzlich. Deren Schritte schienen mühselig und qualvoll, so als trüge sie eine schwere Last. Beide Arme baumelten wie nutzlos an den Seiten. Und als sie

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