Der Gesang des Blutes
streckte ihr die Tasse entgegen, und Kristin füllte sie. Bevor sie zu erzählen begann, trank sie einen langen Schluck.
«Weißt du, was ein Scherenschleifer ist?»
«Scherenschleifer …? Sind die nicht früher übers Land gezogen und haben Messer und Scheren geschliffen?»
Hanna nickte. «Ganz genau. Die gab es bis vor vierzig Jahren sogar noch. Heute sind Messer billig, und keiner schleift sie mehr nach, aber als der junge Sasslinger dieses Haus erbaute, waren Scherenschleifer weit verbreitet. Jeder hatte sein Revier, und sie kamen in regelmäßigen Abständen in die Dörfer. Ich erinnere mich, dass ich als Kind Angst vor ihnen hatte. Das waren oft verlumpte und vierschrötige Kerle.»
Hanna hielt inne und schien nachzudenken.
«Hoffentlich bekomme ich es noch zusammen … mein Vater erzählte mir von einem Reim, den die Scherenschleifer riefen, wenn sie in die Dörfer kamen. Er ging ungefähr so:
‹Bringt heraus Messer und Scher, so sie schneiden wieder schwer. Ich schleif sie euch, schnell und gut, und führ sie vor, an meinem Blut.›
«An meinem Blut …? Das klingt ja grässlich! Was soll das bedeuten?»
Hanna, die gerade von ihrem Kaffee trank, winkte ab und stellte die Tasse wieder auf den Tisch. «Ach, nur so eine Redewendung, mit der die Kerle angeben wollten. Sie meinten damit, dass sie ein von ihnen geschliffenes Messer über die Kuppe ihres Daumens ziehen würden, um dessen Schärfe zu demonstrieren. Vielleicht hat der eine oder andere es wirklich getan – mit genügend Alkohol im Kopf natürlich.»
Kristin bekam eine Gänsehaut. Sie betrachtete die Kuppe ihres Daumens und meinte, eine Art Phantomschmerz spüren zu können, wie er bei einem solchen Schnitt entstehen würde.
«Nimm das bloß nicht ernst», sagte Hanna. «Wahrscheinlich ist es ohnehin nur Humbug. Oder kannst du dir vorstellen, dass so ein Scherenschleifer sich bei jedem Kunden den Daumen aufritzt?»
«Klingt unwahrscheinlich», sagte Kristin, obwohl sie ein dazu passendes Bild bereits vor ihrem geistigen Auge sah. Da war sie wieder, die Phantasie ihrer Kindheit, die ihr so oft eine Heidenangst eingejagt hatte. An Toms Seite war sie verschwunden – nein, nicht verschwunden, nur in die Versenkung ihres Unterbewusstseins abgetaucht. In Toms Leben hatte Phantasie keine große Rolle gespielt, und irgendwie hatte das auf sie abgefärbt. Aber jetzt sah sie ein Messer aufblitzen und Fleisch in zwei Hälften teilen, sah Blut fließen und hörte den merkwürdigen Reim. Und irgendwas daran war bedeutsam. Kristin ahnte das, kam aber nicht drauf, was es sein könnte.
«Na ja, wie auch immer», fuhr Hanna fort, «jedenfalls kam eines Tages so ein Scherenschleifer nach Althausen. Heinrich Sasslinger hatte damals gerade erst ein Mädchen aus dem Dorf geheiratet. Einundzwanzig und bildhübsch soll sie gewesen sein. Als der Scherenschleifer kam, war der Sasslinger draußen auf den Feldern. Niemand weiß, was genau passierte, aber als der junge Sasslinger zum Mittagessen nach Haus kam, lag seine Frau mit durchschnittener Kehle auf der Diele.»
«Oh Gott!» Kristin presste sich eine Hand vor den Mund.
Hanna sah sie prüfend an, bevor sie weitererzählte. «Der Scherenschleifer kann nicht besonders schlau gewesen sein, denn die Spuren seines Wagens ließen sich problemlos verfolgen. Vielleicht war er auch betrunken, wer weiß? Jedenfalls fanden sie ihn unweit des Dorfes und schleppten ihn zurück zum Tatort. Er soll immer wieder beteuert haben, er sei unschuldig, doch niemand schenkte ihm Glauben. Sie erhängten ihn kurzerhand an der Kastanie neben dem Haus. Wenig später soll der Sasslinger verrückt geworden sein. Nicht lange, nachdem er seine Frau unter die Erde gebracht hatte, setzte er seinem Leben ein Ende, indem er das Haus anzündete und darin verbrannte.»
Hanna zögerte kurz und blickte Kristin an. Die Falten in ihren Mundwinkeln schienen tiefer geworden zu sein.
«Das Haus brannte völlig nieder. Nur der Keller blieb erhalten.»
Der Dezember war nicht mehr weit entfernt, und an diesem Abend las Kristin ihrer Tochter die erste Weihnachtsgeschichte des Jahres vor. Sie las wie immer, hoffte jedenfalls, dass es für Lisa wie immer klang, war aber nicht wirklich bei der Sache. Schon beim Abendessen, als Lisa von ihrem Einkaufsbummel berichtet hatte, hatte sie ihr kaum zugehört. Seit Hanna Wittmershaus die Geschichte vom Scherenschleifer erzählt hatte, war Kristin nicht mehr davon losgekommen. Da war irgendwas. Irgendwas
Weitere Kostenlose Bücher