Der Gesang des Blutes
aufzusammeln, die sie Kristin am Tage ihres Auszuges geschenkt hatte. Das hatte sie nicht gewollt … nein, das nicht.
Lisa erschien mit dicken Tränen auf den roten Wangen in der Tür. «Oma … was ist denn mit Mama … warum ist sie so böse?»
Ilse legte die Scherben so behutsam auf den Tisch, als könnten sie noch gut sein für irgendetwas, und nahm die Kleine in ihre Arme. Sie zitterte am ganzen Leib.
«Ist nicht so schlimm», flüsterte Ilse, «mach dir keine Sorgen, Träumerchen. Alles wird wieder gut.»
13
Pat Benatar röhrte «We belong». Sven Brüning beugte sich zum Radio und drehte es lauter. Er mochte den Song. Es war halb fünf; vor wenigen Minuten hatte er das letzte Paket dieser Nacht ausgeliefert, jetzt konnte er sich entspannen, brauchte die Zeit nicht mehr im Auge behalten.
Als er sich wieder aufrichtete, bemerkte er den dunklen Geländewagen auf der Abbiegerspur neben sich. Der Beifahrer saß auf seiner Höhe und grinste ihn auf eine Art an, die Sven nicht gefiel. Ein bis auf einen Schatten kahl geschorener Typ mit kantigem Schädel und einem Ding von Nase, das offensichtlich schon mehrmals gebrochen worden war. Schnell blickte Sven zur Ampel hoch.
Pat Benatar war vergessen. Während er auf Grün wartete, meinte er zu spüren, wie der kahl Geschorene ihn anstarrte. Und obwohl er überzeugt war, das schwarze Loch einer großkalibrigen Waffe glotze ihn an, widerstand Sven dem Drang hinüberzusehen. Was wollte dieser Kerl von ihm? Warum glotzte er so blöd?
Endlich sprang die Ampel auf Gelb und dann Grün. Sven gab Gas. Sein Kopf war plötzlich heiß. Verdammt, er hatte schon auf den Knall des Schusses gewartet. Dieser Godzilla hatte ihn doch nicht grundlos so angesehen. Sven warf einen Blick in den Seitenspiegel und erschrak. Da! Da hatte er den Salat!
An der Ampel hatte sich der Geländewagen auf der Abbiegerspur neben ihm befunden, doch er war nicht abgebogen, sondern fuhr jetzt hinter ihm. Gerade scherte er kurz aus, nur um schnell wieder im toten Winkel zu verschwinden. Der Transporter besaß keinen Rückspiegel, es machte Sven nervös, den Wagen nicht mehr sehen zu können.
Da war doch irgendwas im Gange. So benahm sich niemand, der einfach nur durch die Gegend fuhr. Unwillkürlich musste Sven an die zwei Wochen denken. Genau zwölf Tage noch, dann trat seine Abmachung mit Robert in Kraft. Zwölf Tage, und ab ging es in den Süden. Wenn nicht …
Was konnte er tun? Die nächste Polizeistation ansteuern? Vielleicht war es auch besser, einfach weiterzufahren, nicht stehen zu bleiben. Er befand sich nahe der Innenstadt. Um diese Zeit war nicht viel los, doch Polizeistreifen gab es mehr als genug. Jede Nacht sah er sie durch die Straßen patrouillieren.
Ja, das war es. Er brauchte nichts weiter zu tun als unterwegs zu bleiben. Scheiß auf die Zeit! Dann würde er eben Überstunden machen. Die wurden zwar nicht bezahlt, waren aber immer noch attraktiver als ein Loch in der Stirn. Vielleicht begegnete er ja sogar einer Streife. Dann könnte er sich an deren Stoßstange heften, und der Geländewagen wäre in null Komma nichts verschwunden.
Als Sven darüber nachdachte, kam er sich ein bisschen kindisch vor. Eigentlich gab es ja keinen Anhaltspunkt, der auf Radduk schließen ließ – mal abgesehen von dem Blick des kahl rasierten Typen auf dem Beifahrersitz. Aber musste das was bedeuten? Manche Menschen konnten eben nicht anders als blöde zu gucken. Seine Gedanken brachen jäh ab, als er in fünfhundert Metern Entfernung die nächste Ampel sah. Sie schaltete von Gelb auf Rot.
«Scheiße, Scheiße, Scheiße!», fluchte Sven laut. Plötzlich kam er sich überhaupt nicht mehr kindisch vor. Ganz im Gegenteil.
Er versuchte so zu fahren, dass die Ampel umspringen musste, bevor er sie erreichte. Zwei Fahrzeuge bogen von der Kreuzung in seine Richtung, dann war die Straße wieder verwaist. War der Wagen noch hinter ihm? Sehen konnte er ihn nicht. Da die Ampel immer noch rot war, wollte Sven gerade den Fuß vom Gaspedal nehmen, als der Geländewagen ausscherte, überholte, sich vor ihn setzte und ihn ausbremste.
Restlos überrascht von dieser Aktion brachte Sven den Transporter zum Stehen. Sein starrer Blick haftete an dem Heck des Off-Roaders; wummernd leistete sein Herz Schwerstarbeit, seine Hände begannen zu zittern. Er hätte noch immer den Rückwärtsgang einlegen und verschwinden können, doch eine aus Angst geborene Lähmung hinderte ihn daran. Nicht nur, dass er sich nicht bewegen
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