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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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Kuppe seines Daumens. Geräuschlos schnitt es eine tiefe Wunde ins Fleisch, die sofort auseinanderklaffte. Blut quoll daraus hervor und lief an seiner Hand hinab. Fasziniert und angeekelt zugleich starrte sie darauf. «Ich geh ins Haus und hol das Geld», sagte sie mit matter, kraftloser Stimme, und als sie ging, fühlten sich ihre Beine an wie flüssiges Wachs. In ihrem Kopf war die Melodie und der Gesang des Scherenschleifers. Nur der Gesang des Scherenschleifers.
    Sie ging in die Küche. Auf dem Herd verkohlte das Omelett, doch das störte sie nicht. Sie nahm die Fotografie von der Wand, welche ihr Haus von der Straße her zeigte. Von dem dicken Ast der alten Kastanie baumelte an einem Seil eine Gestalt mit langem Hals. Auch das störte sie nicht, es gehörte dazu. Sie öffnete die kleine hölzerne Tür, die sich hinter dem Bild in der Wand befand, und entnahm dem Versteck die Tonvase, in der sie ihr Geld verwahrte. Viel war es nicht, aber für den Scherenschleifer würde es schon reichen. Rasch holte sie einen zerknitterten Schein hervor und ging damit auf die Diele hinaus. Sie wollte nach draußen treten – und prallte erschrocken zurück.
    Aus dem Gegenlicht trat der Scherenschleifer in die Diele. Eine schwarze Gestalt mit einem blitzenden, gut geschärften Messer in der rechten Hand. Scherenschleifer betreten niemals die Häuser, niemals!
    «Nur mein Blut an der Klinge», sagte er, und hob das Messer, mit dem er sich in den Daumen geschnitten hatte. «Nur mein Blut!»
    Sie wollte schreien, doch ihr Hals fühlte sich an, als würde er zugedrückt.
    Plötzlich lag sie auf dem kalten Boden der Diele. Mit wilden Bewegungen zerriss er ihr Kleid, legte ihre Brüste vollends frei, schlug ihr ins Gesicht. Noch immer konnte sie nicht schreien. Ihre Augen zuckten hin und her auf der Suche nach Rettung. Dann fiel ihr Blick auf das kleine Regal über dem Heizkörper, auf dem sie immer ihr Schlüsselbund ablegte. Die Gartenhacke, die kleine Gartenhacke mit dem grünen Griff, die Lisa ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, lag dort oben. Das noch unbenutzte Metall glitzerte im einfallenden Licht.
    Sie streckte den Arm aus, wollte danach greifen, begriff instinktiv, dass dieses harmlose Gartengerät eine gefährliche Waffe war, mit der sie dem Scherenschleifer die Augen heraushacken konnte. Doch sie lag auf dem Boden, das Regal war hoch oben an der Wand – und es rutschte immer höher, befand sich schon bald unter der Decke. Die spitzen Zacken verschwammen vor ihren Augen, sie spürte kalten Stahl an ihrer Kehle.
    «Nur mein Blut an der Klinge, nur mein Blut …»
    Endlich konnte sie schreien.
    Sie schrie, schrie, schrie …
    So laut, dass sie am nächsten Tag heiser sein würde.
    Am nächsten Tag …?!
    Kristin meinte ihre Augen öffnen zu müssen, doch sie waren bereits geöffnet. Bis an ihre Grenzen aufgerissen waren sie, starrten aber in eine perfekte Dunkelheit. Es dauerte einige Sekunden, ehe Kristin begriff, dass sie soeben aus einem Traum erwacht war. Noch immer heftig atmend, versuchte sie sich zu orientieren.
    Draußen auf dem Flur machte jemand Licht. Als ein schmaler, langer Stab fiel es unter der Tür hindurch in ihr Schlafzimmer. Endlich konnte sie sich im Raum orientieren. Sie saß mit dem Rücken an das hölzerne Kopfende ihres Bettes gepresst, sämtliche Muskeln waren angespannt und verhärtet, krampfhaft klammerten sich ihre Finger um ein Stück Stoff, hielten es vor ihre Brust, als müsse sie sich vor irgendetwas schützen. Auf dem Flur trappelten nackte Füße; jemand flüsterte, klopfte an ihre Tür, wartete aber keine Antwort ab, sondern stürzte sofort herein und knipste das Licht an. Als würde ein Stern explodieren, stach es in Kristins Augen. Als sie wieder sehen konnte, standen Ilse und Lisa an ihrem Bett. Deutlich war ihnen anzusehen, wie sehr Kristin sie mit ihrem Geschrei erschreckt hatte.
    «Kristin, um Gottes willen, was ist passiert?» Ilses Stimme zitterte vor Aufregung, ihre Augen waren dunkel gerändert, die Pupillen geweitet.
    Kristin blinzelte. Noch waren ihre Gedanken so träge, als würden sie in einem See aus Honig schwimmen. Allzu deutlich spukten die Traumbilder in ihrem Kopf, und sie meinte, kalten Stahl an ihrer Kehle zu spüren. Verwirrt blickte sie an sich herunter; ihr wurde bewusst, was für einen Eindruck sie auf Lisa und Ilse machen musste. Völlig verängstigt und verschwitzt an das Kopfende ihres Bettes gepresst, einen Zipfel der Decke als Schutz vor ihre Brust haltend, die

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