Der Gesang des Blutes
nie erwischt. Selbst wenn du denkst, dass er dich kriegt, wachst du auf, und schwups … ist alles in Ordnung.»
«Und wenn er mich doch kriegt?»
«Davor brauchst du keine Angst haben, Träumerchen. Der Wolf erwischt dich nie, niemals. Das verspreche ich dir.»
«Hast du vom großbösen Wolf geträumt?»
«Ja, ich glaub schon. Aber ich weiß es nicht mehr so genau.»
Im Dunkeln konnte Kristin es zwar nicht sehen, doch sie ahnte, aus was für großen Augen Lisa sie ansah. Es tat gut, jemanden zu haben, um den sie sich kümmern musste. Jemanden, der bedingungslos auf ihre Hilfe, auf ihre Kraft angewiesen war.
«Schlaf jetzt», flüsterte sie.
Nach wenigen Minuten atmete Lisa ruhig und gleichmäßig. Kristin wartete noch eine Weile, bevor sie sich von ihr löste und in die Betthälfte rutschte, in der Tom geschlafen hatte. Dort war es kalt und irgendwie weit weg, und Kristin wäre gern in Lisas Nähe geblieben. Doch die Gefahr, ihr im Schlaf weh zu tun, war zu groß. Also lag sie in der anderen Hälfte und wartete mit offenen Augen darauf, dass die Kälte verschwand und der Schlaf kam. Sie wünschte sich, niemals von der Geschichte des Hauses und diesem unsäglichen Scherenschleifer gehört zu haben. Während ihre Augen zufielen und das Unterbewusste langsam die Oberhand gewann, tauchten die Bilder des Albtraumes wie verblassende Aquarelle nochmals in ihrem Kopf auf. Und auch der Gesang war wieder da. Der Gesang des Scherenschleifers. Er lullte Kristin in den Schlaf.
«Rektal, rektal, rektal … das ist der Schwulen Qual.»
«Los, holen wir uns die Schwuchtel. Ich hab hier was, das will er bestimmt in seinem Arsch haben.»
Irres Lachen.
Es war ein ellenlanges Metallrohr, das Stefan Möller hoch über seinem Kopf schwang. Wenn sie ihn einholten, würde Möller ihm das Rohr hinten reinstecken. Ganz sicher! Möller machte solche Sachen.
Und sie holten ihn ein, denn sie waren schnell, spielten alle Fußball in der B-Jugend. Nur er nicht; nein, er nicht. Und deshalb war er langsam, so verdammt langsam, sie lachten sogar noch, während sie ihm nachsetzten. Das Rohr, blank und innen hohl, kam näher, immer näher …
«Los, wir kriegen ihn, diese verdammte Schwuchtel … heute gibt’s den Arsch voll …»
Und sie lachten und lachten …
Als Sven erwachte, spürte er sofort ein gemeines Wummern in seinem Schädel. Gleich darauf bemerkte er, dass er auf einem Stuhl saß und nichts bewegen konnte außer seinem Kopf. Einen Moment noch dauerte es, bevor die Bilder des Traumes verschwanden, seine Sinne wieder funktionierten und er den Mut aufbrachte, seine Augen zu öffnen. Das rechte Lid war verklebt, ließ sich nur schwer öffnen.
Mein Blut, das ist mein Blut!
Rektal, rektal, rektal … das ist der Schwulen Qual …
Er blickte an sich herunter, sah verschwommen, dass seine Arme und Hände an die Lehne, seine Füße an die Stuhlbeine gefesselt waren. Grelles Licht erhellte einen hohen, hallenartigen Raum. Staubiger Geschmack lag in der Luft. Außerdem roch es, als ob etwas in eine Ecke gekrochen und dort krepiert war. Das alles nahm Sven überdeutlich wahr, bevor die Stimme erklang.
«Sieh an, unser schwuler Freund ist wieder da», sagte sie von irgendwo aus dem Hintergrund. Für einen Augenblick war Sven sicher, dass es die von Stefan Möller war. Stefan Möller mit dem Metallrohr.
Rektal, rektal, rektal … das ist der Schwulen Qual …
Noch während die Worte geisterhaft nachhallten, erlangte Sven sein Sehvermögen gänzlich zurück. Und tatsächlich, der Stuhl, an den er gefesselt war, stand in einer Halle oder einem Keller. Es gab keine Fenster. Die Decke, mindestens vier Meter hoch, wurde abgestützt von Betonpfeilern, die bis zur Mitte grau und darüber weiß gestrichen waren. Der Boden war staubig, man sah ihm die schweren Fahrzeuge an, die viele Jahre lang darübergerollt waren. Sie hatten ihn in eine leerstehende Fabrikhalle gebracht, wie es sie in Hamburg zu Hunderten gab. Scheiße! Das war nicht gut. Das war ganz und gar nicht gut.
«Ird auch Zeit», sagte eine andere Stimme.
Sven drehte seinen Hals so weit er konnte. Damit änderte sich zwar sein Blickwinkel, jedoch nicht das, was er sah: ein scheinbar endloser staubiger Keller aus Beton und weißgrauer Ölfarbe. «Hee, was soll das?», hatte er laut rufen wollen, doch mehr als ein heiseres Krächzen brachte er nicht zustande. Als er wieder nach vorn sah, stand dort ein Mann. Es war nicht der, mit dem Sven am Lieferwagen gesprochen hatte. Der
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