Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
Vom Netzwerk:
die emsig bimmelnde Glocke. Seine Kleidung war dunkel, verschmutzt, zerrissen. Seinen Filzhut hatte er tief ins Gesicht gezogen, sodass sie es nicht erkennen konnte. Er hatte Mühe zu verhindern, dass ihm sein Wagen in die Hacken rollte, denn der Weg zu ihnen war steil und unbefestigt.
    «Bringt heraus Messer und Scher, so sie schneiden wieder schwer. Ich schleif sie euch, schnell und gut, und führ sie vor an meinem Blut.» Zweimal rief er seinen Spruch. Sie konnte seine Worte verstehen, als stünde er neben ihr. Der Scherenschleifer war’s, nur der Scherenschleifer! Diese verwahrlosten Männer wirkten stets wie gedungene Verbrecher, waren aber harmlos. Sie führten kein leichtes Leben, hatten kein Dach überm Kopf, kein wärmendes Feuer am Abend, keine Frau, die auf sie wartete. Nein, vor dem brauchte sie keine Angst haben. Außerdem kam er grad recht. Ihr einziges Messer war stumpf, schnitt nur noch, wenn sie sich anstrengte.
    Sie nahm das Messer und lief auf den Hof hinaus. Scherenschleifer kamen niemals ins Haus. Zu leicht konnte man sie des Diebstahls bezichtigen, und niemand würde ihnen glauben, auch wenn sie die Wahrheit sprachen.
    Der Scherenschleifer zog seinen schmutzigen Filzhut noch tiefer ins Gesicht, bevor er das Messer entgegennahm. So blieb er ein Fremder für sie. Er war wortkarg, doch sein Blick blieb länger als nötig auf sie gerichtet. Als er sich umdrehte, um mit der Arbeit an dem Messer zu beginnen, sah sie an sich herab. Sie erschrak. Die oberen drei Knöpfe ihres Kleides waren geöffnet. Der Ansatz ihrer vollen Brüste, vom Schweiß feucht schimmernd, schaute hervor – das schickte sich nicht, wenn Fremde kamen. Wie hatte sie das nur vergessen können? Ihr Mann würde sie schlagen, sollte er eines solchen Verhaltens gewahr werden – zu Recht! Rasch schloss sie die Knöpfe.
    Der Scherenschleifer zog aus seinem Wagen einen kleinen Schemel hervor, stellte ihn auf den Boden und setzte sich mit dem Rücken zu ihr darauf. Dann öffnete er eine andere Lade und entnahm ihr zwei graue, längliche Stäbe, die so dick waren wie zwei Finger. Prüfend betrachtete er sie und legte einen schließlich wieder in die Lade zurück. Mit dem anderen begann er das Messer zu bearbeiten. Sie wollte sich abwenden, als er innehielt und sie ansprach, ohne sich umzusehen.
    «Schlecht ist das Messer, Frau. Ihr bräuchtet ein neues. Ist der Herr zugegen?»
    «Nein, und ein neues Messer wollen wir nicht. Das alte tut es noch eine Weile.»
    Darauf zuckte er mit den Schultern und widmete sich wieder seiner Arbeit. Sie ging derweil zu der imposanten Kastanie, warf schon mal das kräftige Seil über den Ast und begann, eine Schlinge an das eine Ende zu legen. Während sie das tat, beobachtete sie aus den Augenwinkeln den Scherenschleifer. Er begann ein Lied zu pfeifen, dessen Melodie ihr merkwürdig bekannt vorkam. Alsbald sang er eine kurze Strophe dazu. Seine Stimme hatte tragenden Charakter und war zum Singen geeignet. Während ihre Finger geschickt arbeiteten, lauschte sie dem Gesang des Scherenschleifers.
    «Ich bin wieder hier, in meinem Revier, war nie wirklich weg, hab mich nur versteckt.»
    Immer nur diese eine Strophe, immer wieder. Schon nach kurzer Zeit fühlte sie, wie sich eine angenehme, schwarze Trägheit in ihrem Kopf ausbreitete. Das Lied gefiel ihr gut, es zog sie an, machte, dass es warm wurde in ihrem Inneren. Ihre Finger bewegten sich immer langsamer, und als der Scherenschleifer von seinem Schemel aufstand, hatte sie die Schlinge für seinen Hals noch nicht fertig. Trotzdem unterbrach sie ihre Arbeit und ging zu ihm.
    Bevor er sich umdrehte, nahm er seinen Hut ab und legte ihn auf den Handwagen. Nun konnte sie sein Gesicht erkennen. Aber er sah ihr nicht in die Augen, sondern auf ihren Körper. Verwirrt blickte sie an sich herab, bemerkte, dass die obersten drei Knöpfe ihres Kleides wieder offen standen. Ihre Brüste hoben und senkten sich bei jedem tiefen Atemzug. Aber es war ihr egal. Gern hätte sie noch einmal die Melodie gehört, doch der Scherenschleifer sang nicht mehr.
    Er hob die linke Hand und streckte den Daumen vor. Ein schmutziger, gelblicher Daumen mit langem Nagel, unter dem verkrustetes Erdreich schimmerte.
    «Wie neu ist es jetzt … wie neu …», faselte er, setzte die Klinge des Messers mit der Spitze an die Kuppe seines Daumens, ließ es dort einen Augenblick verharren und starrte sie an.
    «Und führ es vor an meinem Blut», raunte er.
    Dann zog er das Messer langsam über die

Weitere Kostenlose Bücher