Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
Vom Netzwerk:
den Fahrstühlen und suchte aus den vielen Namen und Nummern Barnickel heraus. Zweite Etage, Büro 223 . Mit einer leeren Kabine fuhr sie nach oben. Als sie ausstieg, spürte sie so plötzlich und heftig ihre Blase, als habe ihr jemand eine Drei-Liter-Infusion verpasst. Unmittelbar vor den Fahrstühlen befand sich eine Ansammlung von Schreibtischen, die zu einem Oval zusammengestellt waren. Computer, Ablagen und Grünpflanzen standen darauf, dahinter saßen vier korrekt gekleidete Damen auf Drehstühlen und starrten auf ihre Monitore. Die Luft war zu warm und trocken und zusätzlich geschwängert von den unterschiedlichen Parfüms der Sekretärinnen.
    Zögerlich ging Kristin auf das Oval zu. Ihre Blase schien platzen zu wollen. Die ihr am nächsten sitzenden Dame erhob sich und lächelte sie an.
    «Wie kann ich ihnen helfen?»
    Kristin räusperte sich. Wissen die hier, wie es auf meinem Konto aussieht?, dachte sie.
    «Mein Name ist Kristin Merbold, ich habe um zehn einen Termin mit Herrn Barnickel.»
    Die Dame wandte sich dem Terminplaner zu. «Ja, richtig, Frau Merbold …», sie lächelte Kristin wieder an, «darf ich Sie bitten, dort vorn noch für ein paar Minuten Platz zu nehmen. Sobald Herr Barnickel frei ist, gebe ich Ihnen Bescheid.»
    Kristin bedankte sich und ging zu der grauen Sitzgruppe. Kaum saß sie, rebellierte ihre Blase. Sie ahnte, dass sie das Gespräch so nicht durchhalten würde, also stand sie auf und ging noch einmal zu dem Oval.
    «Entschuldigen Sie bitte, kann ich hier die Toilette benutzen?»
    «Aber selbstverständlich. Den Gang runter und dann rechts.»
    Kristin folgte dem langen Flur, kam dabei an der Tür 223 vorbei, neben der auf einem Plastikschild «Th. Barnickel» zu lesen war, und fand am Ende die Toiletten. Hastig schloss sie sich in einer Kabine ein, aber kaum hatte sie begonnen, ihre Blase zu entleeren, war auch schon Schluss. Sie hatte es geahnt: reine Nervosität.
    Ein paar Minuten später nahm sie wieder auf der erniedrigend tiefen Sitzgruppe Platz. Von Th. Barnickel war noch nichts zu sehen. Die Uhr zwischen den Fahrstuhltüren zeigte fünf vor zehn an. Kristin war froh, sich nicht um Lisa sorgen zu müssen. Die Mutter des kleinen Tobias Mönck nahm sie vom Kindergarten mit, und Lisa würde dort den Nachmittag verbringen. Sie verstand sich gut mit Tobias, erzählte häufig von ihm und spielte gern dort. Ilse hatte sie nicht gesagt, wohin sie fuhr. Sollte es wirklich Probleme geben, könnte sie das noch immer tun, und bis dahin konnte Kristin gut auf ihre vorwurfsvollen Worte verzichten.
    Um Viertel nach zehn ging auf dem Gang eine Tür auf, leise Schritte näherten sich auf dem Veloursteppich.
    «Frau Merbold?»
    «Ja, das bin ich.» Hastig stand Kristin auf.
    «Schön, dass Sie es so schnell einrichten konnten, Frau Merbold. Ich bin Thorsten Barnickel. Ich bin zuständig für Ihre Kreditangelegenheiten.»
    Der Mann, der ihr seine Hand entgegenstreckte, war vielleicht fünfundvierzig Jahre alt, etwas untersetzt, und sein dezent grünes Hemd spannte über einem kleinen Bauch. Er hatte volles, dunkles Haar und einen etwas helleren Oberlippenbart. Sein Händedruck war warm und kräftig. Kristin fand ihn nicht unsympathisch. Mit der Begrüßung wuchs ihre Hoffnung ein bisschen mehr.
    «Kommen Sie, wir gehen in mein Büro.»
    Barnickel schob sie mehr oder weniger vor sich her und bot ihr in seinem kleinen Büro einen Stuhl vor dem Schreibtisch an. Auch dort war es viel zu warm, außerdem roch es nach kaltem Zigarettenqualm. Thorsten Barnickel ließ sich auf seinen Drehstuhl fallen und sah sie an. Seine fleischigen Finger – er trug einen Ehering – ruhten auf dem Schreibtisch.
    «Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten, Frau Merbold?»
    «Danke, das ist nett, aber ich hatte heute schon Kaffee.»
    «Dann vielleicht einen Tee?»
    Mit dem Wissen um ihre nervöse Blase wollte Kristin eigentlich gar nichts trinken, weil es ihr aber unhöflich erschien, nahm sie einen Tee. Barnickel griff zum Telefon und orderte ihn, dann widmete er sich wieder ihr.
    «Frau Merbold …», er zögerte, schien nach den richtigen Worten zu suchen, und Kristin ahnte, was kommen würde. «Zunächst einmal möchte ich Ihnen mein Bedauern darüber aussprechen, was mit Ihrem Mann geschehen ist. Das ist wirklich eine schreckliche Tragödie.» Wie um das Gesagte zu untermalen, schüttelte Barnickel auf eine verständnislose Art seinen Kopf.
    Kristin nickte nur und versuchte, ihm nicht in die Augen zu sehen. Eine

Weitere Kostenlose Bücher