Der Gesang des Blutes
soll es damit auf sich haben?
«Ich verstehe die Frage nicht.»
«Alle Kunden, die in unserem Haus ein Darlehen zum Zweck des Erwerbs einer Immobilie aufnehmen, verpflichten wir dazu, eine Risikolebensversicherung abzuschließen. Diese Versicherung dient allein dazu, im Falle des Todes des Darlehensnehmers das Risiko für unser Haus gering zu halten. Das Geld fließt in voller Höhe in die Tilgung des Darlehens für Ihr Haus, Frau Merbold. Über dieses Geld können Sie nicht frei verfügen. Wussten Sie das nicht?»
«Nein.»
«Nun, eben deshalb habe ich das Gespräch mit Ihnen gesucht, Frau Merbold. Schon jetzt ist unschwer zu erkennen, dass Sie Ihren Kapitaldienst langfristig nicht bringen können. Nach Verrechnung der RLV bleibt eine Restschuld von …», er warf einen schnellen Blick in die Unterlagen, «… von knapp hunderttausend Euro, zuzüglich Zinsen.» Er seufzte und sah von seinen Unterlagen hoch. «Und genau das sind die Schwierigkeiten, von denen ich gesprochen habe, Frau Merbold.»
Mittlerweile war Kristins Kopf voller Rauch. Verschiedenes von dem, was Barnickel gesagt hatte, geisterte in dem Rauch umher, ohne jedoch einen klaren Sinn zu ergeben. Sie wusste nicht mehr, wo sie ansetzen sollte, war ihr doch die Grundlage ihrer Hoffnungen, jene fünfzigtausend Euro, über die sie nicht «frei verfügen» durfte, so rasant entzogen worden, dass sie es immer noch nicht ganz begriff.
Unangenehmes Schweigen entstand zwischen ihnen. Schließlich sagte Barnickel: «Verstehen Sie jetzt, in welcher Situation Sie sich befinden, Frau Merbold? Ich sage es nur ungern, aber es sieht nicht so gut aus.»
Zumindest das begriff Kristin voll und ganz. Der freundliche Herr Barnickel, ihr Kreditsachbearbeiter mit der gemütlichen Figur, der verheiratet war und vielleicht Kinder hatte, der sicher in einem solide finanzierten Eigenheim wohnte, versuchte ihr beizubringen, dass sie ihr Haus verlieren würde. Kristin spürte Wut in sich aufsteigen. Heiße, unberechenbare Wut. Auf den selbstgerechten Kerl, der ihr gegenübersaß und nichts anderes tat, als seine Unterlagen durchzublättern. Auf die ganze Bank, in deren Schalterhalle Tom erschossen worden war, und zuletzt auf sich selbst, weil sie dumm genug gewesen war, auf das Gute im Menschen zu hoffen. Und obwohl sie meinte, die Hitze dieser Wut würde ihr Gesicht bereits rot verfärben, versuchte Kristin sie zu unterdrücken. Ihre Stimme klang jedoch deutlich verändert.
«Und was genau wollen Sie damit sagen, Herr Barnickel? Ich weiß, dass meine finanzielle Situation nicht gut aussieht, aber das ist in meiner Lage ja wohl auch kein Wunder, oder? Trotzdem müssen wir ja nicht gleich in Panik ausbrechen. Es wird sich doch wohl ein Weg finden lassen, meinen Sie nicht auch?»
«Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, Frau Merbold. Ich will Sie nur vor weiterem Schaden bewahren. Es ist nicht Ihre Schuld, das weiß ich. Gerade deshalb erachte ich es als meine Pflicht, schon jetzt mit Ihnen nach einer Lösung zu suchen. Damit wir frühzeitig gegensteuern können. Ich verstehe ja, in welchem Dilemma Sie stecken.»
Kristin sah in direkt an. «Ich glaube kaum, dass Sie auch nur annähernd nachvollziehen können, in was für einem Dilemma ich mich befinde.» Darauf antwortete Barnickel nicht. Er wich ihrem Blick aus.
«Hören Sie, Herr Barnickel, ich … ich bin mir sicher, ich bekomme das irgendwie hin. Meine Mutter ist zu mir gezogen, ich kann wieder arbeiten gehen … geben Sie mir nur etwas Zeit … bitte!» Barnickel drehte den Kugelschreiber zwischen seinen Fingern und seufzte. Er blickte noch immer auf die Unterlagen und sagte: «Natürlich, Frau Merbold … natürlich. Denken Sie in Ruhe über alles nach, worüber wir gesprochen haben. Aber scheuen Sie sich nicht, auch die letzte Konsequenz ins Auge zu fassen.»
Kristin erstarrte und verkrampfte ihre Finger ineinander. «Und die wäre?»
«Nun … die in solchen Fällen übliche Vorgehensweise …» Diese Formulierung wirkte bei Kristin wie ein Blasebalg, der die Glut ihrer Wut noch einmal kräftig entfachte. Barnickel ließ erschrocken seinen Kugelschreiber fallen, als Kristin plötzlich aufstand. Mit beiden Händen stemmte sie sich an der Kante des Schreibtisches ab, ihr Gesicht war nicht weit entfernt von dem des Bankers.
«Jetzt will ich Ihnen mal was sagen, Herr Barnickel … mein Mann ist zwei Etagen tiefer in diesem Haus erschossen worden, er ist auf dem Teppich verblutet, über den Sie jeden Tag laufen, und
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