Der Gesang des Blutes
Knarren und Knarzen durch ihr tiefes Wurzelwerk an das Fundament des Hauses weitergeben.
Kristin öffnete das Schloss des Briefkastens, das sich anfühlte wie ein Stück Eis, und entnahm die tägliche Zeitung und einen Brief. Sie schob die Zeitung in ihre Jacke, behielt den Brief aber in Händen. Auf dem Rückweg zum Haus betrachtete sie ihn. Es war einer dieser Geschäftsbriefe, die sich schon durch ihre äußere Form verrieten: länglich, mit einem Sichtfenster aus milchigem Pergament. Er war dünn und leicht, der Absender stand im oberen Bereich des Fensters: die SA -WestBank in Hamburg.
In deren Schalterhalle war Tom erschossen worden.
Kristin wurde nachdenklich. Die Kälte spürte sie kaum noch, und als sie die Haustür aufschloss, fühlte sie sich unwohl. Sie zog Stiefel und Jacke aus und streifte die dicken Norwegersocken über, die sie im Haus stets trug. Da sie Ilse im Wohnzimmer rumoren hörte, verschanzte sie sich mit dem Brief in Toms Büro. Seit ihrem Streit betrat Ilse den Raum nicht mehr. Kristin setzte sich an den Schreibtisch, knipste die kleine Lampe an und starrte auf den Brief. Schließlich nahm sie den Öffner aus Ebenholz, den Tom von seinem Chef zum Geburtstag bekommen hatte, und schlitzte den Umschlag auf. Darin befand sich nur ein Bogen Papier. Kristin zog ihn heraus und faltete ihn auseinander. Es war ein offizieller Briefbogen der Bank, in der oberen linken Ecke befand sich deren Firmensymbol in roter Farbe.
Kristin las. Dann las sie die wenigen gedruckten Zeilen noch einmal und noch einmal. Nicht weil sie sie nicht verstand, sondern weil sie etwas in Erinnerung riefen, was sie seit Toms Tod verdrängt hatte. Der Brief war von einem Thorsten Barnickel gezeichnet, dem für sie zuständigen Sachbearbeiter. Der Ton war höflich geschäftlich, und die wenigen Worte besagten nicht mehr, als dass er sich wegen des Darlehens für ihr Haus mit ihr unterhalten wolle. Kristin ließ ihre Hände mit dem Briefbogen auf die Schreibtischunterlage sinken und sah aus dem Fenster. Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Was konnte Barnickel von ihr wollen?
Eigentlich alles. Sie hatte sich einen vollen Monat nicht um ihre geschäftlichen Angelegenheiten gekümmert.
Plötzlich kam sie sich wie ein kleines Kind vor, das von der großen weiten Welt da draußen nichts verstand. Hatte Ilse letzlich doch recht, wenn sie sie ein kleines Fräulein nannte und ihr vorwarf, sie würde sich vor der Wahrheit verstecken? Mit den Augen eines Außenstehenden betrachtet, grenzte es ja schon an Dummheit, wie sehr sie sich in diesen Dingen auf Tom verlassen hatte. Und dabei hatte Ilse sie noch darauf aufmerksam gemacht! Drei Wochen nach der Beerdigung hatte Kristin mit ihrer Hilfe den Antrag auf Witwenrente ausgefüllt und eingeschickt und sich auch um die Auszahlung einer Lebensversicherung in Höhe von fünfzigtausend Euro gekümmert. Aber danach …? Sie wusste nicht einmal, ob die Rente oder die Versicherungssumme mittlerweile auf ihrem Konto eingegangen waren.
Und es war nicht das Konto allein, was sie in den letzten Wochen ignoriert hatte.
Kristin atmete tief ein und zog den blauen Ablagekorb heran. Der Postkorb! Die Briefe der letzten Wochen, die sie absolut nicht interessiert hatten. Viele waren es nicht. Sie fand einige verspätete Beileidsbekundungen, dazwischen jedoch auch mehrere dieser länglichen Briefe mit Sichtfenster. Sie nahm ihren Mut zusammen und schlitzte den erstbesten auf.
Es war die Rechnung vom Bestatter. Einschließlich Sarg und Dienstleistungen betrug die Summe fast viertausend Euro.
Kristins Wangen wurden heiß. Hatte sie den Betrag bereits überwiesen? Wohl kaum, der Umschlag war ja noch geschlossen gewesen. Sie wühlte in dem Ablagefach und förderte einen zweiten Brief der Bestattungsfirma zutage. Er enthielt eine freundlich formulierte Erinnerung, den längst fälligen Betrag doch möglichst bald zu überweisen. Laut Datum in der oberen rechten Ecke war diese Mahnung vier Tage alt.
Noch nie in ihrem Leben war Kristin etwas so peinlich gewesen. Mit zittrigen Händen heftete sie die beiden Briefe mit einer Büroklammer zusammen und öffnete den nächsten.
Auch das war eine Rechnung. Sie kam vom Besitzer der Gaststätte in Althausen, in der die Trauerfeier stattgefunden hatte. Für Kaffee, Tee, Butterkuchen und belegte Brötchen verlangte der Wirt dreihundert Euro. Außerdem war da noch ein Posten für Bier und Korn über zweihundertzwanzig Euro.
Trank man auf Trauerfeiern Alkohol? War
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