Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
Vom Netzwerk:
das ist gerade mal vier Wochen her …», Kristin stockte, da ihre Worte sich zu überschlagen drohten. «Von dieser Bank habe ich eine formelle Beileidskarte bekommen, sonst nichts, und jetzt sitzen Sie hier hinter Ihrem Schreibtisch und kommen mir mit der üblichen Vorgehensweise –»
    «Frau Merbold, bitte.»
    «Lassen Sie mich ausreden. Ich will Ihnen nämlich noch sagen, was Sie mich mal können.» Kristin stockte abermals und holte tief Luft. Sie hatte Barnickel beleidigen wollen, verkniff es sich aber.
    «Sie hören von mir.» Abrupt drehte Kristin sich um und ging zur Tür. Sie spürte heiße Tränen aufsteigen, und das Letzte, was sie wollte, war, vor diesem Kerl zu heulen. Sie schlug die Tür hinter sich zu und rannte zum Fahrstuhl.
    Die adretten Damen im Oval sahen ihr erstaunt nach.

15
    Ilse verharrte.
    Was war das für ein Geräusch? Hatte da eine Glocke gebimmelt? Sie ging rasch zum Fenster und sah auf den Hof hinaus. Er lag still und einsam da, bedeckt von einer dünnen weißen Schicht, die über Nacht alles zur Leblosigkeit erstarrt hatte. Einen Augenblick blieb sie am Fenster stehen, wandte sich dann ab und zuckte mit den Schultern. Sie räumte weiter das Geschirr aus der Spülmaschine, verharrte kurz darauf aber erneut. Wieder eilte sie ans Fenster.
    Nein, Kristin war noch nicht zurück. Dabei hatte sie gemeint, jemanden «Ich bin wieder hier» rufen gehört zu haben. Ilse schüttelte den Kopf und schalt sich in Gedanken eine Närrin.
    Sie war nervös und angespannt. Vor einer Stunde hatte Kristin das Haus verlassen. Mit einem einsilbigen Gruß und ohne ihr zu sagen, wohin sie fuhr.
    Die Welt ist ein Jammertal, dachte Ilse und räumte seufzend die letzte Tasse in den Schrank. So viel Unglück in einer einzigen Familie, das war einfach nicht fair. Ihre Tochter litt, und sie konnte ihr nicht helfen, hatte es an ihrem Geburtstag sogar noch schlimmer gemacht. Unbeabsichtigt zwar und ohne Frage schuldlos, trotzdem hatte der Streit Spuren hinterlassen. Ilse spürte sie deutlich in ihren Unterhaltungen, die hölzern und vorsichtig geworden waren.
    Das hatte sie nicht gewollt. Dieses dumme Foto hatte offen auf dem Schreibtisch gelegen, wie konnte Kristin da behaupten, sie würde herumschnüffeln? Allein dieses Wort. Immerhin wohnten sie zusammen in diesem Haus, und wenn sie sich schon für die meiste Putzarbeit hergab, konnte sie sich doch wohl mal an den Schreibtisch setzen. Schließlich hatte sie nicht die Post geöffnet. Das war nämlich der eigentliche Grund gewesen, warum sie überhaupt ins Büro gegangen war: die vielen ungeöffneten Briefe, die Kristin nicht beachtete. Aber sie hatte sich nicht getraut, auch wenn es vielleicht besser gewesen wäre.
    Wie kindisch das alles war. Aber so war ihre Kleine schon immer gewesen. Bagatellen konnten sie aus dem Gleichgewicht bringen. Unwillkürlich musste Ilse an das Bild denken. Dieses dumme Bild. Nach dem Desaster hatte sie es in der Speisekammer zwischen Kartoffeln und dem Vorrat an doppellagigem Klopapier versteckt. Das war nicht gut, Kristin konnte es dort jederzeit finden. Und solange sie dermaßen zart besaitet war, dufte das nicht passieren. Aber wohin damit? Gab es einen Raum, den ihre Tochter kaum betrat?
    Nun, das Gästezimmer, in dem sie selbst schlief, doch mit dem Gedanken konnte Ilse sich nicht anfreunden. In ihrer Nähe wollte sie dieses blöde Bild nicht haben. Es musste eine andere Möglichkeit geben.
    Und die gab es. Den Keller.
    Das war auch wieder so eine ängstliche Marotte. Da war dieser kühle, dunkle Keller, in dem man wunderbar einen Vorrat an Winterkartoffeln einlagern könnte, aber er wurde nicht genutzt. Weil Kristin ihn nicht mochte, wahrscheinlich sogar Angst vor ihm hatte, kaufte sie jede zweite Woche einen Fünfkilobeutel dieser Dinger, die aus holländischen Gewächshäusern stammten und so schmeckten, als wolle man sich das Essen abgewöhnen. Sie betrat den Keller nicht, also war er bestens dazu geeignet, das unsägliche Bild eine Zeitlang dort verschwinden zu lassen.
    Da Ilse nicht wusste, wann ihre Tochter zurückkehren würde, nahm sie es sofort in die Hand. Sie holte die gerahmte Fotografie aus der kleinen Speisekammer neben der Küche und ging damit auf die Diele hinaus. Dort war es merklich kühler. Die Diele war groß und hoch, und dank der alten Tür schaffte der einzige Heizkörper es kaum, sie warm zu halten. Ilse fror.
    Die nach oben führende Treppe war mit Holz verkleidet, darunter befand sich eine Art Kammer,

Weitere Kostenlose Bücher