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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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bewegen. Er begann zu schreien, kämpfte mit aller Kraft gegen die Hände an seinem Kopf an. Hardy hatte Mühe, ihn in seinem Griff zu halten.
    Radduk beugte sich vor. Er führte die Spitze der Büroklammer wie ein Betrunkener, der schon zwölfmal versucht hatte, seinen Schlüssel ins Schloss der Haustür zu stecken. Dabei verzerrte sich sein kantiges Gesicht, als litt er mit seinem Opfer. «Halt ihn stiller», zischte er seinem Helfer zu.
    Sven schrie. Er kniff die Augen fest zusammen, doch das war natürlich kein Schutz. Mit dem Interesse eines Chirurgen bohrte Radduk die Spitze der Büroklammer in Svens rechtes Auge. Sie glitt hinein, ohne dass er auch nur das Gefühl hatte, auf Widerstand zu stoßen. Sofort quoll dickflüssiger, gelblicher Saft aus dem kleinen Loch.
    «Ahnsinn!», sagte Radduk, «die Dinger scheinen richtig unter Druck zu stehen.»
    Mit einer leichten Drehbewegung bohrte er den Draht noch etwas tiefer. Dabei zuckten Svens Augenlider wie verrückt. Beinahe hätte er es geschafft, sich aus Hardys Umklammerung zu befreien. Die Hände verstärkten ihren Druck noch. Svens Schreie wurden lauter, infernalisch geradezu. Radduks Ohren wurden taub. Das war der alleinige Grund, warum er die Klammer aus dem Auge zog und sich aufrichtete. Ohne den Draht im Loch quoll viel mehr von der gallertartigen Flüssigkeit heraus. Sie lief über Svens Wange und tropfte von dort auf seine Hose. Ein dunkler Fleck, der nicht richtig einziehen wollte.
    Hardy ließ ihn los. Sofort begann er zu zappeln, sein Kopf schlug hin und her, seine Schreie wollten nicht abreißen.
    Radduk grinste.
    «Muss das sein?», fragte Hardy.
    «Geh doch raus, wenn du zu eich ist.» Hardy blieb. Es war besser zu bleiben.
    Plötzlich erstickten Svens Schreie in einem Blubbern, und er erbrach sich. Die Kotze schoss förmlich aus seinem Mund hervor. Radduk brachte sich mit einem schnellen Satz nach hinten in Sicherheit. Ein säuerlich stinkendes Chips-Cola-Gemisch ergoss sich über Svens Oberkörper, Hose und Schuhe und platschte auf den staubigen Boden. Angeekelt zogen Radduk und Hardy sich zurück.
    «Ann, stinkt das.», sagte Radduk.
    Sven wimmerte. Sein linkes Auge hatte er geöffnet, das rechte blieb geschlossen. Er riss an den Fesseln, wollte sein Auge anfassen, es festhalten, zurückhalten, was da so warm über seine Wange lief. Es lief aus! Sein Auge!
    Radduk warf die Büroklammer weg und wischte seine Hand an der Hose ab.
    «Fo finde ich Roert Stolz?», fragte er noch einmal.
    Keine Antwort.
    «Konn schon, Junge, dann lass ich dich in Ruhe.»
    Sven spuckte und stotterte nur.
    Radduk schüttelte den Kopf. «Gig nal die Latte da!», befahl er Hardy.
    Hardy hob eine stabile Holzlatte vom Boden auf und gab sie ihm. Radduk wog sie in den Händen, trat vor den Stuhl, postierte sich wie ein Baseballspieler und holte weit aus. Dann schlug er sie mit Wucht vor Svens Kniescheibe, die sofort zersplitterte. Knochenfragmente schossen in das umliegende Gewebe, bohrten sich ins Muskelfleisch. Das Geräusch war entsetzlich, Hardy wandte sich ab. Sven schrie, aber nicht mehr so laut. Radduk stützte sich auf die Latte und wartete ein paar Minuten ab.
    «Rede, und ich lass dich in Ruhe.»
    Alles, was Sven noch herausbekam, war der Name der Straße, in der Robert Stolz wohnte. Dann drosch Radduk ihm die Latte ins Gesicht, und es wurde still in der Halle.

14
    Dass der Tod auch eine finanzielle Seite hat, erfuhr Kristin am Tag nach ihrem Streit mit Ilse. Am kalten, grauen Morgen des 1 . Dezember ging sie gegen zehn Uhr die Hofeinfahrt zur Straße hinauf. Dort oben hatte Tom einen hölzernen Briefkasten auf einem kurzen Pfahl angebracht. Lebhafter Ostwind, der die erste wirkliche Kälte mitbrachte, pfiff in den hohen Kronen der Silberpappeln. Ihre kahlen Äste zitterten im Wind. Das trockene, unansehnliche Laub raschelte unter Kristins Füßen. In den frühen Morgenstunden hatte es gefroren; gespinstiges Weiß lag auf Blättern und Gräsern und hatte den gepflügten Acker neben ihrem Grundstück mit einer samtenen Schicht überzogen, durch die hier und dort dunkles Erdreich lugte.
    Wenn es Wind gab, so hatte Kristin festgestellt, war dies ein lautes Grundstück. Dann rauschte oder pfiff es in den Pappeln, je nach Jahreszeit, und die knorrigen, weniger biegsamen Äste der alten Kastanie neben dem Haus ächzten unter der Kraft der Natur. Ein fremdartiges Geräusch, das sie des Nachts bis ins Haus hören und sogar spüren konnte. Als würde die Kastanie ihr

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