Der Gesang des Blutes
berühren. Als sei die Dunkelheit nicht einfach nur der Zustand fehlenden Lichts, sondern etwas Eigenständiges, entsetzlich Greifbares. Plötzlich schwitzte sie aus allen Poren. Trotzdem schob sie ihre Hand weiter vor, fand den Lichtschalter und drehte ihn herum.
Eine armselige, nackte Glühbirne, von deren Fassung Rost herunterlief, mühte sich redlich, den vier mal vier Meter großen Raum zu erhellen. Sie baumelte an einem kurzen schwarzen Kabel. Ilse starrte in die Mischung aus Licht und Dunkelheit und hatte den Eindruck, die Dunkelheit würde über kurz oder lang den Kampf gewinnen.
Es gab nichts, wo sie das Bild hätte verstecken können, nicht einmal eine vergammelte Kartoffelkiste. Nur ein Holzregal, das schief an der Wand lehnte und bald vollends verfaulen würde.
Das war seltsam. Noch nie war Ilse ein Keller untergekommen, in dem sich nichts befand. Vor allem solche wie dieser, die zu nichts anderem taugten, als darin Schutt, Schrott und Müll zu lagern, waren meist Gerümpelgruben sondergleichen. Soweit sie es nach wenigen Blicken beurteilen konnte, gab es nicht mal Spinnen. Wovon hätten die auch leben sollen?
Ilse warf einen Blick zur Decke. Dort verliefen die Leitungen und Rohre des Badezimmers. Das dicke Rohr musste die Abwasserleitung der Toilette sein. Nach einem kurzen Bogen verschwand es in der Betondecke, die gleichzeitig der Fußboden des Badezimmers war. Es war an mehreren Stellen unterteilt und mit Muffen verbunden. An diesen Stellen wies das ansonsten graue Kunststoffrohr Verfärbungen auf, die man mit einer gehörigen Portion guten Willens als Rost bezeichnen konnte. Plastik rostete zwar nicht, doch die gesamte Leitung war mittels Stahlklammern in der Decke verankert, und die rosteten, was das Zeug hielt.
Ilse wurde flau im Magen; der Geruch konnte durchaus der ihrer eigenen Exkremente sein, die in kleinen Dosen durch die undichten Rohrverbindungen quollen. Nein, dieser Keller war ganz sicher nicht zum Einlagern von Kartoffeln geeignet! Nicht einmal fest verschlossene Einmachgläser würde sie hier abstellen wollen.
Ilse ging zum Regal hinüber und legte die gerahmte Fotografie des Hauses auf dem oberen Brett ab. Auf dem Rückweg zur Treppe hörte sie die Worte.
«Ich bin wieder hier …»
Laut und deutlich, aus allen Richtungen.
Panik übermannte sie von einer Sekunde auf die andere. Sie schrie auf, stürzte aus dem Raum, hetzte die Treppe hinauf, ohne auf die Stufen zu achten. Schmerzhaft stieß sie sich das rechte Schienbein, achtete aber nicht darauf.
War da nicht etwas hinter ihr? Verfolgte sie das, was unten im Keller neben ihr gesprochen hatte? Ilse meinte heißen Atem in ihrem Nacken zu spüren, so heiß, dass er unmöglich von dieser Welt sein konnte.
Eine Stufe noch, die letzte, die Rettung!
Schmerzhaft presste sich ihre Lunge gegen die Rippen. Mit verzerrtem Gesicht streckte sie die Arme aus, beugte den Oberkörper vor, wie es Läufer taten, die als Erste das Zielband zerreißen wollten. Schon befand sich ihre rechte Hand im Türrahmen. Sie hatte es geschafft, gleich, nur noch einen Schritt. Oben würde sie in Sicherheit sein. Nie wieder würde sie einen Fuß in diesen Keller setzen. Mehr noch, sie würde das Haus verlassen! Mit Lisa und Kristin, sie durften hier nicht bleiben. Hier … stimmte etwas nicht.
Plötzlich schlug die Tür zu.
Sie krachte so heftig ins Schloss, dass vier Finger an Ilses rechter Hand brachen. Das Knacken war laut, der Schmerz enorm. Die Wucht schleuderte Ilse in den Keller zurück. Verzweifelt ruderte sie mit den Armen, versuchte irgendwo Halt zu finden, doch es gab keinen.
Es folgte ein unendlich langer Fall, der nur den Bruchteil einer Sekunde dauerte. Sie schlug mit der Brustwirbelsäule auf, zwei Wirbel brachen, doch sie blieb bei Bewusstsein. Der Himmel war der Boden, der Boden der Himmel, oben und unten gab es nicht mehr, alles war eine einzige Bewegung. Mit ihrem eigenen Körpergewicht fiel sie auf ihren rechten Arm, er brach an zwei Stellen. Ihr Kopf schlug gegen die Steinwand, einmal, dann noch einmal. Haut platzte auf, Blut schoss hervor.
Als der geschundene Körper am Ende der Treppe zu liegen kam, war Ilse bewusstlos. Ihr blutender Kopf lag auf dem Boden, ihre Beine auf den Stufen. Oben zitterte noch das alte Holz unter dem heftigen Schlag.
16
Es dämmerte bereits, als Johann den alten Daimler vor dem Sasslingerhaus ausrollen ließ. Die Scheinwerfer tauchten die Vorderfront in gelbliches Licht, Schatten huschten über den
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