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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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die den Abgang in den Keller bildete. Ilse öffnete die Tür. Sie quietschte in den Scharnieren. In Reichweite ihres Armes gab es einen altmodischen Drehschalter, der nur noch schwergängig funktionierte. Sie drehte ihn, die gelbliche, nackte Glühbirne unter der Treppe flammte auf. Sie war wohl so alt wie der Keller selbst und spendete gerade genug Licht, um die Stufen erkennen zu können. Eine steile Treppe aus rauem Beton, mit schmalen und ausgetretenen Trittflächen, von Wänden aus groben Natursteinen zusammengepresst, führte in die Tiefe.
    Als Ilse mit dem Bild in der Hand oben an der Treppe stand, konnte sie ein klein wenig verstehen, warum Kristin den Keller nicht nutzte. Er war wenig ansehnlich, vor allem aber strahlte er eine kalte, merkwürdig leblose Atmosphäre aus.
    Sie setzte den rechten Fuß auf die erste Stufe – und spürte einen eisigen Hauch. Er legte sich wie eine Totenhand um ihren Knöchel, der nur von einem Nylonstrumpf geschützt war. Ein von außen nach innen flutendes Frösteln erfasste ihren ganzen Körper; sie war versucht, ihren Fuß zurückzuziehen und die Tür zuzuschlagen. Was sollte auch der Unfug mit dem Bild? Waren sie beide nicht erwachsen genug, derlei Dinge mit vernünftigen Worten zu regeln? Musste sie wirklich in den Keller schleichen wie eine Mutter, die kurz vor Heiligabend Geschenke vor den Kindern zu verbergen sucht? Der Drang zur Flucht – und nichts anderes wäre es schließlich gewesen – war stark, doch Ilses Selbstbewusstsein war stärker.
    «So ein Unfug!», schalt sie sich in Gedanken. Die Treppe war schmal und steil, es war kühl und roch muffig, das Licht war gelinde gesagt kümmerlich – aber es war nur ein Keller. Nichts weiter.
    Ilse klemmte sich das Bild unter den rechten Arm und stützte sich mit der linken Hand an der Wand ab. Die Steine unter ihren Fingern waren so kalt wie ein metallener Pfosten in einer eisigen Winternacht. Ihre Füße musste sie schräg aufsetzen, da die Stufen zu schmal waren. Ein leises «Plink … Plink …» war zu hören. Wahrscheinlich hervorgerufen durch Kondenswasser, das von den Abwasserleitungen des Badezimmers, das über dem Keller lag, tropfte. Die leblose Kälte schien intensiver zu werden, je tiefer Ilse stieg. Angewidert rümpfte sie die Nase. Sie fragte sich, was um alles in der Welt in einem ungenutzten Keller solch einen Geruch von sich geben konnte? Der Geruch weckte Erinnerungen, die sie längst vergessen geglaubt hatte.
    Kurts Tod lag bereits zwei Jahre zurück. Er war an einem ausgesprochen heißen Tag im Juli an Hirnschlag gestorben. Ilse hatte an jenem Samstag an einer Blutspendeaktion des Roten Kreuzes teilgenommen. Sie hatte nicht selbst gespendet, aber dafür gesorgt, dass alle Freiwilligen ihr Tellerchen Erbsensuppe bekamen. Kurt war allein zu Haus geblieben. Nach Aussage des Pathologen hatte er sich gegen zehn Uhr auf den Weg gemacht – wohin, hatte Ilse nie erfahren. Als sie gegen zwanzig Uhr nach Hause gekommen war, hatte sie ihn im Wagen sitzend gefunden. Der Zündschlüssel steckte, der Golf parkte in praller Sonne in der Auffahrt. Der Geruch, der ihr aus dem Inneren entgegengeschlagen war, glich diesem. Noch kein Verwesungsgeruch, aber auch nicht weit davon entfernt.
    Ihr schauderte. Ihr Mund war mit schlechtem Geschmack belegt, als sie den Kellerboden erreichte. Er bestand aus gestampftem Lehm. Früher einmal mochte er steinhart, ausgetrocknet und rissig gewesen sein, doch die ständige Feuchtigkeit der Rohre, die nachträglich gelegt worden waren, hatten ihn im Laufe der Zeit weich werden lassen. Ilse konnte spüren, wie der Boden unter ihren Füßen ein wenig nachgab. Unschlüssig sah sie sich um.
    Wo war der Lichtschalter? Wahrscheinlich auf der anderen Seite der Wand, in dem einzigen Kellerraum. Da sie noch vor der untersten Stufe der Treppe stand, musste sie, um das Licht einzuschalten, mit dem Arm um die Ecke greifen. In die Dunkelheit.
    Langsam streckte sie ihre Hand aus. Als würde ein Film im Zeitlupentempo abgespielt, glitten ihre Finger auf die Dunkelheit zu, die wie ein fester Block hinter dem Durchbruch lag. Sie zitterte. Ilse hätte es gern abgestellt, doch sie konnte nicht. Auch lag es nicht in ihrer Macht, den Arm schneller zu bewegen. Ihre Finger erreichten das Mauerwerk, tasteten sich daran vorwärts. Noch befanden sich nicht einmal ihre Fingerspitzen in der Dunkelheit, doch sie rückte näher. Als sie schließlich darin eintauchten, hatte Ilse das Gefühl, sie würde etwas

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