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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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Haustür. «Kommst du schon an den Klingelknopf?»
    Lisa nickte und zeigte es ihm. Zwar musste sie sich auf Zehenspitzen stellen, erreichte den Knopf aber.
    «Gut, klingele bitte ganz oft hintereinander.»
    Während Lisa das Haus und die Nacht mit dem sanften Geläut eines Glockenspieles erfüllte, ging Johann zum Küchenfenster. Er presste sein Gesicht dagegen, schirmte sein linkes Auge mit der Hand ab und stellte die Taschenlampe aufs Glas. Wie er es sich gedacht hatte, konnte er auf diese Art den gesamten Raum ausleuchten. Sollte Ilse sich irgendwo im Erdgeschoss aufhalten, würde er sie sehen. In der Küche war sie nicht.
    Johann kehrte zu Lisa zurück. «Gut, du kannst aufhören», sagte er, obwohl er sie lieber hätte weitermachen lassen. Nicht weil er hoffte, Ilse würde ob des Klingelsturms die Tür doch noch öffnen, sondern weil er sich besser fühlte, wenn es nicht so still war. «Lass uns ums Haus gehen.»
    Dicht nebeneinander schlichen sie an der Ostflanke des Hauses entlang. An jedem Fenster blieben sie stehen, und Johann inspizierte mittels der Taschenlampe die Räume. Schließlich gelangten sie an die Rückseite. Johann leuchtete in den Garten. Dort hinten begann der Wald. Ein Käuzchen rief, ein kurzes, hartes Flattern war zu hören. Sofort spürte er Lisa an seinem Bein.
    «Was ist das?», fragte sie flüsternd.
    «Das war nur ein Käuzchen. Wir haben es mit der Taschenlampe erschreckt.»
    «Was ist ein Keuchen?»
    «Käuzchen, es heißt Käuzchen. Das ist ein Vogel, der nur nachts wach ist, weil er kein Licht mag.»
    «Und weil er kein Licht mag, hat er sich erschreckt?»
    «Genau … komm jetzt.»
    Sie betraten die Terrasse. Die Tür war verschlossen, das Fenster daneben schräg geöffnet. Johann spähte durch den Spalt und erkannte, dass der Griff zum Öffnen der Terrassentür durchaus erreichbar war – nur nicht für ihn. Der Spalt war zu schmal, aber Lisa könnte es schaffen. Doch bevor er diesen letzten Schritt ging und in das Haus einbrach, leuchtete er unter der Gardine hindurch ins Wohnzimmer. Dabei war er so voller Hoffnung, Ilse auf der Couch liegen zu sehen, dass es ihm einen Schlag versetzte, als der Strahl der Taschenlampe wiederum nur durch einen verwaisten Raum glitt. Damit war die letzte Chance vertan. Dass sie schon ins Bett gegangen war, daran glaubte Johann nicht.
    Enttäuscht und mit Angst im Bauch versuchte er, seine Hand durch den Spalt zu stecken, kam jedoch nicht weiter als bis zu den Knöcheln. Also steckte er sich die Lampe unter die Achsel, nahm Lisa auf den Arm und ließ sie es versuchen. Sie erreichte den Griff tatsächlich, konnte ihn aber nicht bewegen. Erst als Johann sie die andere Hand nehmen ließ, klappte es. Die Tür war offen, der Weg frei. Trotzdem ging Johann noch nicht hinein. Seine Angst lähmte ihn beinahe. Die vor ihm liegende Aufgabe verlangte vielleicht mehr, als er zu leisten imstande war.
    Doch was blieb ihm übrig? Was konnte er anderes tun mit dem kleinen Kind neben sich und der Vergangenheit dieses Hauses im Nacken? Eine Vergangenheit, mit der er eng verbunden war. Enger als es ihm lieb war. Nichts, war die niederschmetternde Antwort, die Johann sich selbst gab. Er konnte nichts anderes tun, als hineinzugehen und nach dem Rechten zu schauen. Wieder einmal. Und wenn Gott es wollte, würde es ihn …
    Nein, das führte zu weit. Schnell bückte er sich und fasste Lisa bei den Schultern. Im Lichtstrahl der Taschenlampe wirkte ihr Gesicht wie aus Wachs gegossen. «Lisa, pass auf, wir gehen jetzt hinein und schauen nach, ob deine Oma da ist. Ich möchte, dass du dabei immer dicht hinter mir bleibst. Wenn ich dir sage, du sollst stehen bleiben, dann bleibst du auch stehen, in Ordnung?»
    Vielleicht hatte er zu fest, zu ernst gesprochen, vielleicht war die Dunkelheit zu viel für sie, vielleicht spürte Lisa aber auch seine Angst, jedenfalls schossen ihr plötzlich Tränen in die Augen, und sie begann laut zu schluchzen. Irgendwas sagte sie auch, doch Johann konnte es nicht verstehen.
    «Nicht doch, nicht weinen …», sagte er leise und nahm sie in die Arme. Es dauerte eine Weile, ehe sie sich wieder beruhigt hatte. In dieser Zeit tat Johann nichts anderes, als sie festzuhalten und zu streicheln. Dabei spürte er, wie gut es ihm tat, als Held gefordert zu werden. Eben noch hatte er die Hosen gestrichen voll gehabt, doch kaum beruhigte er dieses kleine, verängstigte Mädchen, war seine Angst nicht mehr so wichtig.
    Als Lisa sich von ihm löste, lief Rotz

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