Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
Vom Netzwerk:
das ihn aus großen, fragenden Augen von unten herauf ansah. Augen, in die sich nun Furcht schlich. Johann spürte, dass sie sich an sein Bein klammerte. Er ging in die Hocke.
    «Du brauchst keine Angst haben, Lisa.»
    «Aber warum macht Oma uns nicht auf, wir haben doch geklingelt und geklopft?» Klang ihre Stimme bereits tränenerstickt? Johann wusste es nicht genau, aber weit war sie nicht mehr vom Weinen entfernt.
    «Weißt du, deine Oma ist ja schon so alt wie ich, und wenn man so alt ist, dann schläft man manchmal so tief und fest, dass einen nichts aufwecken kann.» Das war von der Wahrheit zwar so weit entfernt wie es nur ging, aber was sollte er sagen?
    «Von überhaupt gar nichts?», fragte Lisa. Scheinbar hatte seine Lüge ihre Neugier geweckt.
    Mit geschlossenen Augen schüttelte Johann den Kopf, als sei er Merlin, der alte Zauberer. «Von überhaupt gar nichts. Nicht einmal von Blitz und Donner und tosenden Stürmen – und erst recht nicht von Klingeln und Klopfen.»
    «Aber … aber wie kann ich dann ins Bettchen gehen, wenn Oma uns nicht hineinlässt?»
    «Wir finden schon einen Weg, mach dir keine Sorgen.» Johann strich über ihr glattes Haar, dann erhob er sich mühsam. Länger als ein paar Minuten in der Hocke zu bleiben war eine Qual für ihn. Die vielen Jahre harter Gartenarbeit hatten seine Knie ruiniert. «Wir finden schon einen Weg», wiederholte er leise, als müsse er sich selbst davon überzeugen.
    Ins Haus zu kommen war kein Problem, nicht bei der alten Tür. Hinten im Kofferraum des Daimlers lagen Werkzeuge – unter anderem auch ein solides Brecheisen –, aber Johann sträubte sich dagegen, die Tür aufzubrechen. Das erschien ihm zu … dramatisch. Es wäre ein Eingeständnis, dass dort drinnen etwas Schreckliches geschehen war. Lieber und wider besseren Wissens glaubte er an den von ihm erfunden Tiefschlaf alter Leute, bevor er die bösen Geister der Vergangenheit heraufbeschwor. Außerdem musste er Rücksicht auf Lisa nehmen. Die Kleine würden einen Schock bekommen, wenn er mit roher Gewalt die Tür aufbrach.
    «Weißt du was», sagte er betont unternehmungslustig und sah mit zusammengekniffenen Augen in die Scheinwerfer. «Wir holen erst mal die Taschenlampe aus dem Auto, und dann schauen wir, ob hinten die Terrassentür aufsteht, okay?»
    Lisa nickte tapfer, griff aber sofort wieder nach seiner Hand. Auf dem kurzen Weg zum Wagen dachte Johann darüber nach, was er mit der Kleinen machen sollte. Irgendwie würde er ins Haus gelangen, aber was sie dort drinnen erwartete, war für Kinderaugen vielleicht nicht geeignet. Ilse konnte einen Schlaganfall oder Herzinfarkt erlitten haben, möglicherweise war sie beim Fensterputzen von der Leiter gestürzt, das passierte alle Tage. Vor einem derartigen Anblick musste er Lisa schützen, aber er konnte sie nicht einfach im Wagen lassen. Mittlerweile war es stockduster, sie würde sich fürchten. Entweder sie begleitete ihn, oder er brachte sie vorher zu Maria. Aber wäre das nicht genauso schlimm, als wenn er vor ihren Augen die Haustür aufbrechen würde? Nein, sie musste ihn begleiten. Konnte es sein, dass er sich in Begleitung eines vierjährigen Mädchens besser fühlte bei dem, was ihn erwartete? Konnte es wirklich sein, dass diese kleine warme Hand seine Angst linderte?
    Johann beugte sich in den Wagen und kramte die kräftige Halogentaschenlampe aus dem Handschuhfach. Für einen kurzen Moment überlegte er, ob er die Scheinwerfer abstellen sollte. Ewig würde die Batterie dieses Flutlichtspektakel nicht mitmachen. Aber in völliger Dunkelheit ums Haus schleichen, nein, das wollte er auf keinen Fall! Also ließ er sie an. Er kroch aus dem Auto hervor, schlug die Tür zu und überprüfte die Taschenlampe. Die Batterien waren noch gut. Ihr Licht wirkte klarer als das der Scheinwerfer. Als Johann sie einschaltete, reichte der Lichtstrahl bis weit aufs Feld hinaus. Lisa war begeistert.
    «Ohhh, toll!», rief sie. «Darf ich halten, bitte?»
    Johann gab ihr die schwere Stablampe, die sie mit beiden Händen halten musste. Lisa verfolgte mit großen Augen den scharfgeschnittenen, hellen Lichtstrahl, leuchtete hierhin, leuchtete dorthin, strahlte die Wand des Schuppens und des Hauses an und versuchte auch den Himmel zu erreichen. Johann war erstaunt; der Strahl erreichte tatsächlich die tiefhängende Wolkendecke. Plötzlich hatte er eine Idee.
    «So, dann gib mir die Lampe mal wieder», sagte er und nahm sie ihr ab. Sie gingen erneut zur

Weitere Kostenlose Bücher