Der Gesang des Blutes
Boden wie nachtgraue Katzen auf der Flucht. Geduckt lag das Haus im Halbdunkel unter den kahlen Ästen der Kastanie.
Wie ein Tier auf dem Sprung, dachte Johann und stellte den Motor ab. In dem Moment, in dem die Scheinwerfer erloschen, wusste er, dass etwas nicht stimmte. Weder in der Küche, deren Fenster zum Hof hinausging, noch sonst irgendwo brannte Licht. Um siebzehn Uhr, so war es abgesprochen, sollte er Lisa zurückbringen. Er war auf die Minute pünktlich, doch das Haus wirkte, als sei es verlassen.
«Oma nicht da?», fragte Lisa, die scheinbar das Gleiche dachte wie er.
Johann lächelte, konnte aber seinen Blick nicht vom Haus nehmen. «Doch, deine Oma ist bestimmt da. Wahrscheinlich ist sie im Wohnzimmer und guckt Fernsehen.» Möglich war es. Die Fenster des Wohnzimmers lagen an der Rückseite des Hauses. Ja, es war durchaus möglich, doch warum beruhigte ihn diese Erklärung nicht? Eher im Gegenteil, löste der Anblick des einsam daliegenden Sasslingerhauses etwas in Johann aus, das ihn, wäre er nicht in Begleitung eines kleines Mädchens gewesen, sofort in die Flucht getrieben hätte. Er hatte plötzlich das Gefühl, eine Schraubzwinge presse sein Herz zusammen. Beinahe automatisch löste sich seine rechte Hand vom Lenkrad, seine Finger begannen, seine Brust zu massieren. In letzter Zeit hatte er häufiger dieses beklemmende Gefühl, doch so arg wie jetzt war es bisher noch nicht gewesen. Aber war das ein Wunder? In diesem Gebäude dort vorn, das in der zunehmenden Dunkelheit zu verschwinden drohte, hatte er damals Entsetzliches erlebt – wem würde bei einer solchen Erinnerung nicht das Herz eng werden?
«Wollen wir nicht aussteigen?», fragte Lisa und sah ihn aus großen Augen von der Seite an.
«Nein, wollen wir nicht. Wir bleiben schön sitzen und machen, dass wir davonkommen.» Diese Worte lagen ihm auf der Zunge, aber er sprach sie nicht aus. Der Verstand sagte ihm, wie töricht sie waren, doch sein Bauch sagte ihm, er solle sich besser an sie halten. Johann hörte jedoch nicht auf seinen Bauch.
«Klar wollen wir aussteigen, deine Oma wartet doch auf dich.» Das Gefühl in seiner Brust hatte noch nicht nachgelassen, trotzdem nahm er die Hand fort und schaltete die Scheinwerfer wieder ein. «Damit wir nicht stolpern», sagte er mehr zu sich selbst denn zu Lisa. Er schnallte die Kleine ab, öffnete seine Tür und stieg aus. Bevor er um den Wagen ging und Lisa herausließ, blieb er neben der Motorhaube stehen und sah zur Haustür.
Ilse hätte sie längst bemerken müssen. Das Knirschen des Schotters unter den Reifen seines Gelände-Daimlers war doch bestimmt bis in den letzten Winkel des Hauses zu hören. Vielleicht war sie auf der Couch eingeschlafen? Gern hätte Johann sich wieder in den Wagen gesetzt und so lange auf die Hupe gedrückt, bis Ilse die Tür öffnen würde. Doch das erschien ihm absurd – auch wenn sein Bauch anderer Meinung war.
Er ging zur Beifahrertür und holte Lisa aus dem Wagen.
«Uiii, richtig dunkel», sagte sie und wies auf die weiten Felder rechts des Grundstücks, über die sich bereits die Finsternis gesenkt hatte.
«Stimmt, aber du brauchst keine Angst haben, wir sind ja gleich drinnen.»
«Hab ich auch nicht.»
Johann nahm ihre winzige Hand in seine große. Sie gingen auf die Haustür zu. Noch immer rührte sich nichts.
«Oma schläft vielleicht schon», flüsterte sie.
«Ja, vielleicht. Wir werden wohl klingeln müssen.»
Das tat er. Drinnen ertönte deutlich hörbar ein melodischer Gong. Hand in Hand warteten die beiden und schauten auf ihren Atem, der in der kalten Luft sichtbar wurde. Als sich nichts tat, klingelte Johann ein zweites Mal – und ein drittes und viertes Mal. Die Tür wurde nicht geöffnet. Hinter seinen Schläfen begann es schmerzhaft zu pochen. Lisa sah zu ihm hinauf.
«Ist Oma weggefahren?»
Johann schüttelte den Kopf. Er wusste, dass Kristin mit dem Cherokee nach Hamburg gefahren war. «Nein, bestimmt schläft sie nur besonders fest. Ich klopfe mal, vielleicht hört sie das ja.»
Er ließ Lisas Hand los und hämmerte gegen das trockene Holz. Sogar draußen konnten er hören, wie sich der Schall seiner Schläge im Inneren des Hauses fortpflanzte. Davon musste sie einfach aufwachen – vorausgesetzt, sie schlief überhaupt. Diesen Gedanken wollte Johann lieber nicht zu Ende bringen, zu entsetzlich könnte die Konsequenz sein. Alles in ihm schrie nach Flucht, doch er musste sich zusammenreißen. Um des kleinen Mädchens willen,
Weitere Kostenlose Bücher