Der Gesang des Blutes
Kristin einen Stich. Sie fühlte sich schuldig. Nur ihrem kindischen Verhalten war es zuzuschreiben, dass Ilse das Bild im Keller verstecken wollte. Sie würde jetzt nicht in diesem Bett liegen, wenn …
Kristin schloss die Augen. Doch genauso, wie ihre Mutter sich nicht gegen die Medikamente aus den Infusionbeuteln wehren konnte, kam sie nicht gegen diese Gedanken an. Sie kamen und gingen, wie sie wollten. Hanna hatte versucht, ihr diese Schuldgefühle auszureden, doch es hatte kaum gewirkt. Sie waren noch da und brannten auf ihrer Seele, sobald sie das Einzelzimmer betrat. Diese Gedanken sorgten dafür, dass Kristin nur ungern ins Krankenhaus fuhr – und dafür schämte sie sich abermals. Mitunter erwischte sie sich sogar dabei, Lisa als Begründung vorzuschieben, um die Besuche so kurz wie möglich zu halten. Sie hatte Lisa bislang nicht mitgenommen, und sie hatte es auch nicht vor, solange Ilse im Koma lag. Ob sie es danach tun würde, hing von Ilses Zustand ab. Die Kleine hatte in der letzten Zeit ohnehin mehr mitmachen müssen, als für ein Kind in ihrem Alter gut war. Kristin wollte ihr wenigstens diesen Anblick ersparen. Wenn sie ihre Mutter besuchte – was sie in den vergangenen fünf Tagen jeweils für zwanzig Minuten getan hatte –, brachte sie Lisa zu den Möncks. Johann hatte ihr seine Hilfe angeboten. Lisa verstand sich noch immer gut mit seinem Enkel, doch selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätte Kristin kaum eine andere Wahl gehabt. Sie war mehr als dankbar, Familie Mönck als Nachbarn zu haben.
Johann hatte sie an jenem Abend im Haus erwartet und mit seinem Wagen, in dem es nach feuchtem Boden und Gewächsen duftete, in die St.-Josephs-Klinik nach Barsenbrück gefahren. Johann war anscheinend immer zur Stelle.
Kristin seufzte, stand auf und streckte ihren Rücken durch. Sie ging zum Fenster. Die Dämmerung hatte eingesetzt. Große Buchen, die blattlos und nassschwarz die Straße vor der Klinik säumten, beugten sich leicht dem ersten Sturm des beginnenden Winters. Ein trübes Wetter. Sie stützte sich mit den Händen auf der Fensterbank ab, lehnte ihre Stirn an die kalte Scheibe. Die erste Berührung war unangenehm, dann schien die Kälte in ihren Kopf zu fließen und ihn zu reinigen. Als sie sich umdrehte und einen Blick auf ihre Armbanduhr warf, erschrak sie. Es war bereits kurz nach fünf. Um sechs, so hatte sie den Möncks versprochen, wollte sie Lisa abholen.
Die zwanzig Minuten, die Kristin sich zu bleiben vorgenommen hatte, waren um. Sie war deswegen nicht traurig, fühlte sich aber schlecht, weil sie es nicht war. Leise, so als wolle sie niemanden wecken, nahm sie ihre Handtasche von der Lehne des Stuhls und trat noch einmal an das Bett. Ein letzter Blick, ein letztes Mal die kalte Hand ihrer Mutter berühren. Der Arzt hatte Kristin darauf hingewiesen, dass man mit Komapatienten sprechen sollte. Es konnte durchaus möglich sein, dass sie die Worte trotz ihres Zustandes hörte. Kristin hatte es versucht, aber schon die erste Silbe war ihr im Halse steckengeblieben.
Was sollte sie sagen? Das alles wieder gut werden würde? Oder einfach nur übers Wetter sprechen? Sie konnte es nicht. Genauso wenig, wie sie an Toms Grab sprechen konnte. Kein einziges Wort, nicht einmal einen Abschiedsgruß brachte sie heraus. Ihr Abschied bestand aus einem langen Blick. So wie an den anderen Tagen auch, verließ sie danach zügig den Raum. Kaum hatte sie die schwere Tür hinter sich geschlossen, fiel etwas von ihr ab, das Tonnen wog. Draußen auf dem Gang fand ein völlig anderes Leben statt; dort gab es Geräusche, Bewegung und Licht. Dort lief die Zeit normal, nicht so unendlich langsam wie in dem Einzelzimmer ihrer Mutter.
Kristin atmete tief durch, verließ mit langen Schritten das Krankenhaus und fuhr zurück nach Althausen.
Es war kurz vor sechs, als sie den Cherokee auf den Hof der Mönck’schen Gärtnerei lenkte. In der pechschwarzen Dunkelheit des stürmischen Abends war das beleuchtete Haus ein schöner Anblick. Johann öffnete ihr die Tür.
«Wie geht es deiner Mutter?», fragte er.
«Unverändert, das Koma dauert noch an.»
«Und die Ärzte wissen auch nicht weiter, oder?»
Kristin zuckte mit den Schultern. «Sie können nicht mehr tun, als abzuwarten.»
Johann nickte, zögerte kurz und sagte: «Deine Tochter spielt grad mit Toni in seinem Zimmer. Komm doch für einen Moment herein, dann brauchen wir sie nicht so auseinanderzureißen.»
Kristin war dankbar für die
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