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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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aus ihrer Nase. Johann nahm sein Taschentuch und wischte es weg. «Hab keine Angst, Lisa, es wird alles gut. Bestimmt liegt deine Oma oben im Bett und schläft. Sie hat sich einfach hingelegt, ist eingeschlafen und hat ganz vergessen, wieder aufzuwachen.»
    «Meinst du wirklich?», fragte sie schniefend. Ihre Augen waren groß und rot geweint. «Ich hab aber trotzdem solche Angst.»
    «Du brauchst keine Angst haben, ich bin ja bei dir. Zusammen schaffen wir das schon. Du hilfst mir doch, oder? Ich brauch nämlich jemanden, der sich im Haus sehr gut auskennt. Kennst du dich gut aus?»
    Lisa nickte. «Ich wohn doch hier.»
    «Na prima, dann kann ja nichts mehr schiefgehen. Lass uns reingehen, ja?»
    Mit der rechten Hand hielt Johann die Taschenlampe, an der linken zog er Lisa hinter sich her. Er stieß die Terrassentür vorsichtig mit der Fußspitze auf, dann traten sie ein. Der Raum war leer und kalt; Johann blieb kurz stehen, leuchtete und lauschte. «Ilse?», rief er halblaut, erwartete aber keine Antwort. «Oma?», tat Lisa es ihm nach, nur wesentlich kräftiger und klarer. Eine Antwort bekam auch sie nicht. Dann durchquerten sie den Raum und machten Licht. Wie eine Offenbarung kam es Johann vor, als der fünfflammige Leuchter unter der Decke den Raum bis in den letzten Winkel ausleuchtete. Lisa entspannte sich an seiner Hand und folgte ihm auf die Diele. Johann sah es sofort. Sein Herz setzte für ein oder zwei Schläge aus, er bekam keine Luft mehr. Er bekam wirklich keine Luft mehr! Das Schraubzwingengefühl war wieder da; er taumelte, rang um Atem, ließ Lisas Hand los, um seine Brust zu massieren.
    Dabei sah er nichts weiter als einen schmalen Lichtstreifen. Ein schmaler Lichtstreifen versetzte den großen alten Johann Mönck in Panik. Matt und gelb quoll das Licht unter der geschlossenen Kellertür hindurch. Unter der Kellertür hindurch. Oh Gott, nein, das darf nicht sein. Nicht das. Nicht schon wieder! Nicht –
    «Oma?», rief Lisa laut, die das Licht im Keller entweder nicht gesehen hatte oder ihm keine Bedeutung zumaß. Johann war darauf nicht vorbereitet – er zuckte zusammen, hätte beinahe selbst geschrien. Reiß dich zusammen, du hast ein kleines Mädchen bei dir, also reiß dich zusammen!
    «Lisa …», begann er und spürte, wie sehr seine Stimme zitterte. «Komm … wir gehen in die Küche.»
    «Ist Oma in der Küche?»
    «Lass uns nachschauen, ja?»
    Seine Beine zitterten, seine Muskeln waren weich wie Knetgummi, doch seine Atmung funktionierte wieder. Tief in seiner Brust spürte er einen leise wummernden Schmerz, ignorierte ihn aber. Er führte Lisa in die Küche. Natürlich war Ilse nicht dort, das hatte er ja schon von draußen gesehen. Johann glaubte jetzt zu wissen, wo Ilse war, und wenn er das überprüfen wollte, durfte er Lisa nicht bei sich haben. Auf keinen Fall! Die Kellertür war geschlossen, trotzdem brannte Licht – Johann wusste, was das bedeutete.
    «Lisa, tust du mir einen großen Gefallen?»
    Er hatte sie auf einen Stuhl am Tisch gesetzt und war in die Hocke gegangen. «Bleibst du bitte für einen Moment in der Küche. Ich schaue nur kurz in den Keller. Wir lassen die Tür offen, so wie jetzt, du kannst mich also die ganze Zeit sehen.»
    «Ich hab aber Angst, ich mag nicht allein bleiben.»
    «Du bleibst ja auch nicht allein. Ich gehe nur ein paar Schritte, nur bis zur Kellertür. Du kannst mich die ganze Zeit sehen. Okay?»
    Sie nickte zaghaft. Johann konnte sehen, dass sie gegen ihre Tränen kämpfte. «Du bist ein ganz tapferes Mädchen. Viel mutiger als die meisten Jungs», lobte er sie. Dann strich er ihr übers Haar, stand auf und ging auf die Diele hinaus.
    Wie viel Schritte mochten es bis zur Kellertür sein? Fünf oder sechs? Mehr sicher nicht Als Johann vor der Küche stehen blieb und den Lichtschein betrachtete, kam ihm diese Distanz unüberbrückbar vor. Und als er dann einen Fuß vor den anderen setzte, weil er keine andere Wahl hatte, raubten ihm diese fünf oder sechs Schritte so viel Kraft, als nehme er an einem Marathonlauf teil. Die Türklinke fühlte sich wie ein heißes Stück Eisen in seiner Hand an. Langsam drückte er sie runter, und alles, was er ab diesem Zeitpunkt tat, tat er in einer Art Trance, die ihn davor schützte, doch noch fortzulaufen.
    Er brauchte die Treppe nicht zu betreten, ein Blick hinunter reichte. Ilse war tatsächlich im Keller. Sie lag mit merkwürdig verrenkten Gliedmaßen am Fuß der Treppe. Überall war Blut.

17
    Robert spürte

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