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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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auf Althausen. Auf seiner Landkarte ein kleines Dorf am Rande der Lüneburger Heide. Gegen zehn Uhr tankte er seinen Wagen an der Ausfallstraße voll, kaufte im Kiosk drei Snickers und verließ Hamburg in Richtung Süden. In Richtung Ungewissheit.
    Robert hatte sich entschlossen, jenes Geld aus dem Banküberfall Kristin Merbold zu überlassen. Natürlich nicht genau das Geld, denn die Noten wurden anhand der Seriennummern wahrscheinlich gesucht, nein, er würde ihr die gleiche Summe aus seinen legalen Beständen geben. Jetzt, nachdem er die Entscheidung getroffen hatte, war Robert klar, dass er sie die ganze Zeit mit sich herumgetragen hatte. «Sein Leben gegen meines, war es so?» Nun endlich ergab diese Frage, die ihn seit Erics Tod quälte, einen Sinn. Vielleicht gab es so etwas wie ein Schicksal, und er hatte den Coup damals nur dafür überlebt. Letztlich spielte es aber keine Rolle. Niemals war Robert etwas so richtig erschienen wie sein Entschluss, Kristin Merbold das Geld zu überlassen. Wenn es jemandem gehörte, dann ihr. Sofern sie es wollte – und damit war er bei seinem eigentlichen Problem.
    Sie würde das Geld nur nehmen, wenn sie ihm vertraute. Aber konnte sie ihm vertrauen, ausgerechnet ihm, dem Bruder des Mörders ihres Mannes, der sein Geld mit Klauen verdiente? Seine Chancen standen nicht gut. Nichtsdestotrotz musste er es versuchen. Er kannte sich, hatte er diesen Zustand erreicht, gab es kein Zurück. Ganz egal, was ihn erwartete.
    Nach einer halben Stunde Fahrt verließ er die Autobahn und durchquerte zwei kleine Dörfer. Ein kleines Schild am letzten Dorfausgang verriet ihm, dass er sich auf dem richtigen Weg befand: L 23 , die Landstraße, die geradewegs nach Althausen und hindurch führte. Was danach kam, konnte Robert nicht sehen, er hatte seine Karte dort abgeknickt, wo das Dorf endete. Was danach kam, interessierte ihn nicht, weder auf diese noch auf eine andere Art.
    Nach einer weiteren halben Stunde Fahrt erreichte er Althausen. Er hielt in einer leeren Bushaltestelle und stieg aus. Es war still in dem kleinen Dorf. Böig kalter Wind trieb schwere, graue Wolken vor sich her. Im Radio hatten sie von einem Schneesturm gesprochen. Robert sah sich um. Da er nicht wusste, wo genau Kristin Merbold wohnte, musste er sich durchfragen. Gegenüber der Bushaltestelle befand sich ein kleiner Lebensmittelladen. Die Schaufensterfront war beleuchtet, also hatte er wohl geöffnet. Robert schloss seinen Wagen ab, überquerte die Straße und betrat den Laden.

    Das Büro des Chefarztes der St.-Josephs-Klinik war nüchtern eingerichtet. Kristin saß auf dem Besucherstuhl vor dem Schreibtisch und spielte mit dem dünnen Lederriemen ihrer Handtasche. Sie hatte auf direktem Wege zu Ilse gehen wollen, war aber auf dem Gang von der Stationsschwester abgefangen und mit der Bitte, ein paar Minuten zu warten, in dieses Büro geführt worden.
    Da saß sie nun und blickte abwechselnd von ihren Fingern zu dem zu groß geratenen Holzkreuz an der weiß getünchten Wand hinter dem Schreibtisch. Ihr Magen war ein lauernder Klumpen, ihre Blase quälte sie, jede Faser ihres Körpers schien unter Spannung zu stehen. Als die Tür endlich aufging, fuhr sie erschrocken zusammen, sprang im nächsten Augenblick aber auf.
    «Frau Merbold …» Dr. Kanamara kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu. Der dunkelhäutige Arzt war klein; Kristin überragte ihn um Haupteslänge. Sein gestärkter Kittel hing an ihm wie ein Kleid. «Schön, dass sie so schnell kommen konnten.» Sie schüttelten sich die Hand. Dr. Kanamara hatte weiche, merkwürdig warme Hände, so als hätte er sie in heißes Wasser getaucht. «Setzen Sie sich doch bitte», forderte er sie auf und ließ sich selbst in den Drehstuhl fallen, dessen Lehne ihn weit überragte. Kristin folgte seiner Aufforderung.
    «Wie geht es meiner Mutter?»
    Kanamara faltete auf eine weise wirkende Art seine Hände. «Nun … um es einmal so auszudrücken – den Umständen entsprechend. Sie ist aus dem Koma erwacht. Die äußeren Verletzungen verheilen so, wie man es bei einer Frau ihres Alters erwarten darf. Es ist natürlich noch entschieden zu früh, jetzt schon eine Prognose hinsichtlich der Langzeitfolgen des Schädelbasisbruchs zu stellen, aber …»
    Da, schon wieder eine Pause. Wieder so eine verdächtige kurze Pause. Kristins Magen krampfte sich zusammen.
    Kanamara entwirrte seine Hände und beugte sich vor.
    «Frau Merbold … ich habe Sie zu mir gebeten, damit ich Sie auf das

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