Der Gesang des Blutes
Brünings Stimme. Dieses Geld, es bringt Unglück. Vielleicht sollten wir es verschenken? Ja, vielleicht sollten sie das? Und vielleicht war das der Preis für sein Leben?
Dreimal war eine Waffe auf ihn gerichtet gewesen; dreimal war es der Vorsatz seiner Gegner gewesen, ihn zu töten. Und dreimal war er davongekommen. Das glich schon einem Lottogewinn. So viel Glück wurde einem nicht grundlos zuteil. Andererseits hatte er vielleicht einfach nur Schwein gehabt oder war besser gewesen als die anderen. Manchmal spielte das Leben eben so.
Robert ließ die Zeitung zwischen seine Knie sinken und sah auf das Loch im Boden. Dann wanderte sein Blick durch die Wohnung. Wie lange war er jetzt hier? Vier Jahre? Mindestens ebenso lange spielte er mit dem Gedanken, dieser Stadt den Rücken zu kehren. Weg von diesem Ort, an dem ihn überall die Vergangenheit einholen konnte. Bis heute hatte er es nicht geschafft. Und jetzt war scheinbar der Tag gekommen, an dem ihm die Entscheidung abgenommen wurde. Bis vor fünf Minuten hatte er geglaubt, dass es für ihn nur zwei Möglichkeiten gab: hierbleiben und sich auf einen Krieg mit Radduk einlassen oder weggehen und mit dem ganzen Geld ein neues Leben anfangen. In der Schweiz vielleicht?
Das war vor fünf Minuten gewesen. Jetzt gab es noch eine andere Möglichkeit. Eine, die der alte Zeitungsartikel ihm eröffnete. Und je länger er darüber nachdachte, desto mehr erschien es ihm, als sei dies der einzig gangbare Weg. Der einzig richtige. Es würde ein Abschluss sein, der es ihm ermöglichte, wirklich ein neues Leben zu beginnen.
20
Mit dem ersten Läuten des Telefons entglitt ihr die Teetasse. Sie zerplatzte auf dem Fliesenboden; Scherben schossen in alle Richtungen davon. Kristin blieb wie erstarrt stehen, hoffte, dass es bei einem Mal bleiben würde. Aber nein, das Klingeln wiederholte sich.
Kristin wollte nicht abnehmen. Die Bank könnte anrufen, oder das Krankenhaus. Sie wollte keine weitere schlechte Nachricht. Sie wischte eine widerspenstige Haarsträhne aus ihrer Stirn und starre den Handapparat an, der auf dem Küchentisch lag. Er hörte nicht auf zu klingeln. Schließlich nahm sie ihn hoch, drückte den Sprechknopf und presste ihn sich ans Ohr.
«Hallo?» Rauschende Stille. Der Anrufer schien mit jemand anderem als Hallo gerechnet zu haben.
«Mit wem spreche ich bitte?», tönte eine weibliche Stimme aus dem Hörer. Kristin meldete sich mit ihrem Namen.
«Ah, dann bin ich ja doch richtig. Hier ist das St.-Josephs-Krankenhaus Barsenbrück, Frau Merbold. Es geht um Ihre Mutter.»
«Meine Mutter? Was ist mit meiner Mutter? Hat sich etwas geändert?» Obwohl es nicht nötig war, steckte Kristin ihren Zeigefinger ins linke Ohr, damit sie auch nicht die feinste Regung in der Stimme der Frau überhörte.
«Ich kann Ihnen am Telefon nicht viel sagen, aber sie ist aufgewacht. Der zuständige Arzt möchte, dass Sie sofort kommen. Ist das möglich, Frau Merbold?»
«Ja, ja natürlich, ich fahre sofort los. Nein, halt, warten Sie! Wie geht es ihr? Kann ich meine Tochter mitbringen? Sie ist vier.»
Am anderen Ende entstand eine kurze Pause. Eine verdächtige, kurze Pause. Kristin runzelte die Stirn. Kleine Pausen während eines Telefonates waren doch normal, oder? Wer hatte schon immer gleich die richtige Antwort parat? Vielleicht wurde die Frau auch gestört. Jemand stellte ihr eine Frage, eine Kollegin hatte Feierabend und wünschte ihr einen schönen Tag. So eine kurze Pause konnte alle möglichen Gründe haben. Aber irgendwie war eine kurze Pause, wenn sie von einer Krankenschwester eingelegt wurde, die anrief und darum bat, so schnell wie möglich zu kommen, mehr als verdächtig. Sie war besorgniserregend.
«Es ist wohl besser, wenn Sie Ihre Tochter nicht mitbringen», sagte die weibliche Stimme. Und das auch noch in einer veränderten Tonlage. Kristin wusste schlagartig, dass ihre Sorge begründet war.
«Ja, ist gut, ich komme so schnell es geht», flüsterte sie in den Hörer und legte auf. Einen Moment starrte sie den Handapparat an, dann drückte sie den grauen Knopf erneut und wählte die Nummer der Möncks. Franziska Mönck, Tonis Mutter, meldete sich. Sie einigten sich darauf, dass Lisa vom Kindergarten mit zu ihr kommen und den Nachmittag dort verbringen würde. Fünf Minuten nach dem Anruf verließ Kristin das Haus.
Allzu schwer war es nicht herauszufinden, wo Kristin Merbold lebte. Über die Auskunft erfuhr er ihre Telefonnummer und stieß anhand der Vorwahl
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