Der Gesang des Blutes
Hälfte des Rückweges blieb sie plötzlich stehen. Eine eisige Hand fuhr ihr tief ins Gedärm. Was sie da sah, konnte nicht sein. Durfte einfach nicht sein! Mit zu Boden gerichtetem Blick stand sie inmitten des Schneesturms und begann zu zittern. Nicht wegen der Kälte; entsetzliche Angst löste den ersten Schock ab. Dort, im tiefen, frischen Schnee, waren ihre eigenen Spuren zu sehen. Ganz normale Spuren von schweren Winterstiefeln mit Rillenprofil. Zum Teil schon wieder zugeschneit. Und daneben … Hanna wagte kaum zu atmen. Neben ihren eigenen Spuren …
Nein, das kann nicht sein, ich hab nichts bemerkt, dafür muss es eine andere Erklärung geben, irgendeine, das kann einfach nicht sein!
… tauchte eine zweite Fährte aus dem Dickicht des Schneetreibens auf, näherte sich ihren Spuren bis auf wenige Zentimeter, folgte ihr fünf oder sechs Schritte, um dann wieder zu verschwinden. Große Schuhe, tief in den Schnee eingesackt. Die Fußabdrücke eines Mannes. Jemand war hinter ihr gegangen!
Hektisch drehte Hanna sich um, kniff die Augen zusammen, versuchte die dichte Wand aus Schnee zu durchdringen. Mehr als zwei Meter weit konnte sie jedoch nicht sehen. Plötzlich erschien ihr der Schnee bedrohlich. Noch vor wenigen Minuten hatte sie sich daran erfreut, hatte dem leisen Flüstern gelauscht, sich beinahe einlullen lassen. Alles fort. Er behinderte ihre Sicht. Irgendjemand versteckte sich darin. Lauerte, beobachtete sie.
Hanna wollte rufen, etwas in der Art von «Ist da jemand?», doch ihr Hals war zu trocken. Stattdessen lauschte sie angestrengt, hörte aber nur das stetige Rieseln der Flocken.
Bleib ruhig, ermahnte sie sich, bleib ruhig und denk nach. Irgendjemand konnte vielleicht ebenfalls nicht schlafen und hat sich, genau wie du, zu einem nächtlichen Spaziergang durch den frischen Schnee aufgerafft. Ein Scherzbold.
Das wäre eine vernünftige Erklärung. Vor allem aber eine, wegen der sie keine Angst haben musste. Aber Hanna wusste, dass es nicht so war. Sie spürte etwas. Sie …
… und führ es vor an eurem Blut … an eurem Blut …
Das hatte sie doch nicht wirklich gehört, oder? Das waren doch nichts weiter als Hirngespinste, ein Produkt ihrer überreizten Nerven. Gut, da war jemand neben ihr im Schnee gegangen, aber wer sagte ihr denn, dass die Spuren nicht schon vorher da gewesen waren? Sie hatte es einfach nicht bemerkt, weil sie in Gedanken gewesen war. Genau! Aber müssten sie dann nicht längst wieder zugeschneit sein?
Das Gefühl, beobachtet zu werden, verstärkte sich noch. Ein Schauer nach dem anderen jagte Hanna über den Rücken. Sie musste zum Haus zurück, dort würde sie in Sicherheit …
… und führ es vor an deinem Blut …
Sie begann zu laufen.
Die Worte waren so dicht neben ihr erklungen, dass sie das feine männliche Timbre der Stimme gespürt hatte. Nichts hielt sie mehr. Ihre Gedanken, ihr logischer Verstand wurde von einer Sekunde auf die andere durch reine Panik abgelöst. Doch es war glatt, kaum war sie vier Schritte gelaufen, rutschte sie aus, geriet ins Straucheln, ruderte mit den Armen. Instinktiv packte sie den Mast einer Straßenlaterne, klammerte sich daran fest, wie man sich an einem Baumstamm festklammern würde, der auf reißenden Stromschnellen ritt. Ihr Atem ging heftig, ihr Herz schlug hart in ihrer Brust.
Er ist wieder hier … Es fängt alles wieder an … Oh Gott, ich hab’s gewusst … Oh Gott …
Hanna gönnte sich nur eine Sekunde, dann stieß sie sich von dem eiskalten Laternenmast ab und lief weiter. Etwas vorsichtiger zwar, aber noch immer zu schnell für eine derartige Witterung. Der Schnee fiel so verflucht dicht. Als wolle er ihre Flucht verhindern, zog und rüttelte der schneidende Wind an ihr, trieb ihr die scharfen Flocken in die Augen.
War da nicht etwas hinter ihr? Schwere Schritte und schnaufender Atem?
Nicht umdrehen, nur nicht umdrehen! Wer sich umdreht, verliert. Hanna war nicht mehr gerannt seit … seit ewigen Zeiten. Trotzdem erinnerte sie in diesem Moment die Worte ihres Sportlehrers an der Grundschule. Der hatte während des Hundertmeterlaufs stets am Rande der Aschenbahn gestanden und seinen Schülern zugebrüllt, sie sollen sich nicht nach ihrem Verfolger umdrehen. Wer sich umdreht, verliert.
Hanna wollte sich nicht umdrehen, wirklich nicht, sie wollte nur nach Haus. Die Tür hinter sich zuziehen, abschließen, Johann anrufen. Ja, sie musste Johann anrufen. Auf gar keinen Fall wollte sie sich umdrehen. Aber da waren
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