Der Gesang des Blutes
diese Geräusche hinter ihr, die Angst krallte sich in ihren Nacken. Schließlich warf sie doch einen Blick zurück, einen kurzen schnellen Blick, sie musste einfach Gewissheit haben.
Als sie den Kopf drehte, verlor sie ihr Gleichgewicht und geriet abermals ins Straucheln. Diesmal gab es nichts, woran sie sich hätte festklammern können. Wild um sich schlagend stürzte sie nach vorn und schlug vor dem Schaufenster ihres Ladens auf den Boden. Der Schnee dämpfte ihren Fall. Mit der rechten Hand geriet sie in eine schmale Vertiefung, in die sonst die Vorderreifen von Fahrrädern versenkt wurden. Ihre Finger blieben darin stecken, während die Masse ihres Körpers nach vorn drängte. Mit einem einzigen, schnellen Ruck brachen bis auf den Daumen alle Finger ihrer rechten Hand an den Knöcheln ab.
Hanna schrie hell und markerschütternd. Doch nur wenige Schritte weiter nahm die wattige Wand des Winters ihren Schrei auf und ließ ihn verstummen. Niemand im Dorf hörte ihn. Irgendwie bekam sie ihre anschwellenden, nutzlos baumelnden Finger aus dem Spalt, umklammerte mit der linken Hand ihr Handgelenk und wälzte sich auf den Rücken. Trotz des lähmenden Schmerzes war da noch immer die Angst vor dem, was ihr folgte. Sie hatte es gehört, es war da.
Hanna riss die Augen auf, versuchte, die weiße Wand zu durchdringen. Plötzlich sprang ein grauer Schatten auf sie zu. Instinktiv zuckte sie zurück. Das Messer, an dessen langer, geschärfter Schneide die Flocken abperlten, zog elegant und schnell von links nach rechts an ihrem Hals entlang. Mühelos durchdrang es den selbstgestrickten Schal. Sofort klaffte das Fleisch auseinander und entließ Hannas Blut aus ihrem Körper. Der Schal verhinderte, dass es sich in wilden Fontänen in den Schnee ergoss.
All das geschah binnen einer Sekunde und ohne dass Hanna es wirklich begriff. Noch einmal hörte sie ihren alten Lehrer.
Wer sich umdreht, verliert.
25
Irgendwann in der Nacht schreckte Robert auf.
Es war nicht völlig dunkel, die kleine Lampe am Kamin verteilte ihren matten Schein, trotzdem wusste er zunächst nicht, wo er sich befand. Mehr liegend als sitzend war er tief in den schwarzen Sessel gesunken. Sein Rücken schmerzte. War er deshalb aufgewacht? Einen Moment blieb er noch in dieser unmöglichen Haltung, wartete ab, bis Körper und Kopf wieder zur Zusammenarbeit bereit waren. Dabei betrachtete er Kristin und Lisa. Sie lagen eng beieinander auf der Couch. Er hatte sie zugedeckt, nachdem Kristin sich zu ihrer Tochter gelegt hatte und eingeschlafen war. Sie hatte sich seine Geschichte angehört, hatte darauf verzichtet, die Polizei zu rufen, ihn aber nicht wissen lassen, ob sie ihm glaubte. Würde sie das Geld nehmen? Nach all dem?
Draußen heulte der Wind ums Haus. Irgendetwas klapperte metallen auf der Terrasse vorm Wohnzimmer, doch das hatte es bereits getan, als er das Rollo heruntergelassen hatte. Warmes Wasser rauschte durch die Heizkörper, von Zeit zu Zeit gab das alte Dach Geräusche von sich, die man getrost besorgniserregend nennen konnte. Es ächzte unter der stetig schwerer werdenden Schneelast. Die Geräusche hatten ihn vorhin müde gemacht; er war eingenickt, obwohl er sich vorgenommen hatte, Wache zu halten.
Mühsam drückte er sich in eine normale Sitzposition. Dabei knarzte das Leder laut. Kristin bewegte sich, öffnete aber nicht die Augen. Robert wartete, bis er sicher war, dass sie tief und fest schliefen, schlich dann aus dem Wohnzimmer und zog die Tür hinter sich zu. Schon bevor er sich umdrehte, spürte er, wie ungewöhnlich kalt es in der Diele war.
Schneeflocken wirbelten herein.
Die Haustür stand weit offen, der Stuhl mit der Milchkanne darauf ein Stück weit in der Diele. Er ist nicht umgekippt, war das Erste, was Robert durch den Kopf schoss, dann folgten tausend Gedanken, die alle keinen Sinn ergaben, und er holte seine SIG -Petter aus dem Holster und entsicherte sie.
Dem Schnee nach zu urteilen, der sich bereits auf der Diele angesammelt hatte, stand die Tür schon länger auf. Mit der Waffe in Schusshaltung ging Robert auf die Eingangstür zu. Kalter Wind und Schneeflocken stoben ihm entgegen. Er ging bis zur Schwelle und starrte in die weiße, wirbelnde Wand. Vor der Tür war eine Schneeverwehung gewachsen, und was Robert darin sah, verstand er nicht.
Fußspuren. Sie führten vom Haus weg in die Nacht.
Das war nicht logisch. In dem Augenblick, als er die offene Tür und den nicht umgekippten Stuhl gesehen hatte, hatte sein
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