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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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Verstand damit begonnen, Erklärungen zu suchen. Sie reichten vom Sturm, der es irgendwie geschafft hatte, die Tür aufzudrücken, bis hin zu einem Kumpan, mit dem Radduk unterwegs gewesen sein könnte. Der könnte sich ins Haus geschlichen haben, um nach ihm zu suchen. All das war nun hinfällig. Die Spuren, beinahe schon wieder zugeschneit, führten vom Haus weg. Dafür gab es nur eine Erklärung: Jemand hatte den Stuhl fortgenommen, die Tür geöffnet und war hinausgegangen. Aber wer?
    Da noch immer Schnee in die Diele trieb, schloss Robert die Tür. Er schob den Stuhl wieder davor, ließ aber die Milchkanne, wo sie war. Unschlüssig sah er sich um. Niemand konnte das Haus verlassen haben, weil es außer den Merbolds und ihm hier niemanden gab. Oder? Unwillkürlich ging sein Blick zu Kellertür. Da nur wenig Licht aus dem Wohnzimmer auf die Diele drang, konnte Robert es nicht wirklich sehen, glaubte aber, die Tür würde sich bewegen. Ganz leicht. Hatte er sie vorhin nicht zugedrückt, nachdem er Radduk da hinuntergeschafft hatte? Was ging hier vor?
    Nein, daran brauchst du nicht mal ansatzweise denken. Sein Gehirn ist an der Wohnzimmertür heruntergelaufen, sein Blut eimerweise in der Toilette verschwunden. In dem Zustand steigt niemand eine steile Kellertreppe empor, um einen Spaziergang im Schneegestöber zu machen. Niemand!
    Robert schüttelte den Kopf und strich sich nervös über die Augen. Das war doch Schwachsinn. Niemand überlebt einen solchen Kopfschuss, darüber hinaus war Radduk verblutet. Er selbst hatte sein Blut von den Fliesen aufgewischt. Mindestens fünfzehn Eimer. Das Schneegestöber schien sich in Roberts Kopf eingenistet zu haben, ein einziges Durcheinander. Er wusste nicht, wo er mit einem logischen Gedanken ansetzen sollte. Jede Erklärung warf unlösbare Fragen auf, und außerdem –
    Er zuckte zusammen. Ein Geräusch. Mit der Waffe in beiden Händen drehte Robert sich und zielte auf die Küchentür. Er hatte ein Geräusch gehört, so etwas wie ein langgezogenes Seufzen. Woher war es gekommen? Aus dem Keller, aus der Küche? Sicher war er nicht, meinte aber, es sei aus der Küche gekommen.
    Die Tür war ebenfalls nur angelehnt, Robert zog sie mit der linken Hand auf, tat einen schnellen Schritt nach vorn und fuchtelte mit der SIG im Raum herum. Auf den ersten Blick war nichts zu sehen. Mit der linken Hand hinter sich tastend, suchte er den Schalter, fand ihn und machte Licht. Es war unordentlich. Der Tisch stand schräg, die Stühle irgendwo. Auf dem Boden das Glas, aus dem Lisa Saft getrunken hatte. Radduks Spuren waren noch nicht entfernt, aber das war auch schon alles, was es zu sehen gab. Um sicherzugehen, sah Robert auch in der Speisekammer nach, fand dort aber nichts als Vorräte und einen Staubsauger. Als er wieder herauskam, fiel sein Blick auf die magnetische Messerleiste an der Wand über der Arbeitsplatte. Sauber aufgereiht von klein bis groß hingen dort zehn Messer, doch am Ende, zwischen einem Steakmesser und einem Knochenbeil, klaffte eine Lücke. War das vorhin auch schon so gewesen? Vorhin hatte er die Messerleiste nicht einmal wahrgenommen, und das, so glaubte Robert, hatte einen Grund gehabt: Ohne Lücke war sie perfekt und damit unauffällig. Nun aber nicht mehr. Etwas fehlte.
    Genauso gut könnte er sich aber auch täuschen. Und vielleicht war es auch gar kein Seufzen gewesen? In einem alten Haus wie diesem gab es alle möglichen und unmöglichen Geräusche. Der Sturm tobte ums Haus, heulte an Ecken und Kanten, das Dach beschwerte sich über die Schneelast, Balken knarrten, Fenster vibrierten. Im Wohnzimmer schliefen zwei Menschen, vielleicht hatten Kristin oder Lisa im Schlaf geseufzt, vielleicht träumten sie schlecht? Wäre ja kein Wunder, bei dem, was sie erlebt hatten. Robert verließ die Küche und ging zum Wohnzimmer. Bevor er die Tür aufzog, versteckte er die Waffe hinter seinem Rücken. Es war nicht nötig. Beide schliefen tief und fest. Ob eine von ihnen das Geräusch gemacht hatte, ließ sich natürlich nicht sagen.
    Aber das Geräusch war nicht so wichtig. Viel wichtiger war, herauszufinden, wer den Stuhl weggeschoben, die Haustür geöffnet und die Spuren im Schnee hinterlassen hatte. Robert ging mit vorgehaltener Waffe auf die Kellertür zu. Dort unten in diesem übelriechenden Loch lag ein Toter. Sein Gehirn hatte an der Wohnzimmertür geklebt, sein Blut war in der Toilette verschwunden; nicht einmal im Film überlebte jemand solche Verletzungen. Und

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