Der Gesang des Blutes
Als sie stand, überfiel sie ein starkes Schwindelgefühl. Hätte sie sich nicht am Tisch abstützen können, wäre sie wieder zu Boden gesunken. Einen Moment blieb sie mit geschlossenen Augen vornübergebeugt stehen, wartete, dass ihr Kopf sich beruhigte. Plötzlich tauchten die Worte auf. Alte Bekannte, die nur mal vorbeischauten, um nicht in Vergessenheit zu geraten.
… ich bin wieder hier, in meinem Revier, war nie wirklich weg, hab mich nur versteckt …
Sie huschten vorbei wie eine leichte Brise an einem lauen Sommerabend; zeigten sich kurz, und waren verschwunden, ehe Kristin die Augen öffnete. Bevor sie noch dazu kam, erschrocken zu sein, huschten schon die nächsten vorbei. Ebenfalls alte Bekannte, ebenfalls auf der Durchreise … nur mein Blut an der Klinge … nur mein Blut …
Kristin stöhnte, schüttelte den Kopf und presste sich die Handballen an die Schläfen. Mein Gott, wen würde es noch wundern, wenn ich jetzt langsam durchdrehe? Wenn überhaupt jemand das Recht hat, Stimmen zu hören, dann wohl ich.
Sie war überlastet, einfach nur überlastet – und außerdem musste sie zu Lisa. Sie raffte ihre zerrissene Bluse vor der Brust zusammen und folgte den beiden. Als sie die Diele betrat, traute sie ihren Augen nicht. Da war nichts. Nichts außer glänzenden Fliesen und dem Geruch des Putzmittels. Keine Leiche, kein Blut; als wäre all das nur ein schlechter Traum gewesen, aus dem sie soeben erwacht war. Kristin tastete mit dem Zeigefinger ihre Lippe ab, spürte das verkrustete Blut und die Schwellung und wusste, dass sie nichts davon geträumt hatte.
Immer noch leicht benommen stolperte sie ins Wohnzimmer. Robert Stolz bettete Lisa auf die Couch. Suchend sah Kristin sich um. Die Patchworkdecke war verschwunden. Er bemerkte ihren Blick.
«Haben Sie noch eine Decke? Die andere habe ich … gebraucht», flüsterte er. Damit wurde der Albtraum wieder zur Realität. Kristin konnte sich nur zu gut vorstellen, wozu er ihre alte Lieblingsdecke gebraucht hatte.
«Oben», flüsterte sie mit einer Stimme, die nicht ihre eigene zu sein schien. «Ich hole ihre Decke von oben.»
So schnell es ging lief sie in den ersten Stock, schnappte sich Lisas Bettdecke und Kopfkissen, zog im Schlafzimmer rasch einen grauen Rollkragenpullover anstelle der zerrissenen Bluse an und eilte wieder nach unten. Robert Stolz hockte neben der Couch und wartete. Er hatte die kleine Lampe am Kamin angeschaltet. Sie spendete gerade genug Licht, um nicht gegen die Möbel zu laufen, verlieh aber den Ecken und Nischen ein schattiges Dasein – genau wie seinem Gesicht. Kristin sah, dass er besorgt war, und etwas flatterte nervös in ihrem Bauch, als sie ihn so neben ihrer Kleinen hocken sah. Er trat zur Seite. Sie bedeckte Lisa sorgfältig, strich ihr über die Stirn, stand schließlich auf und wandte sich ihm zu.
«Was … was haben Sie mit dem Mann gemacht?»
Er deutete mit einem Blick auf die schlafende Lisa. «Wollen wir das hier besprechen?»
«Ich lasse meine Tochter nicht allein … nicht nach all dem. Solange sie schläft, können wir sprechen … und ich denke, Sie haben mir einiges zu erklären.»
«Gut … natürlich, ganz wie Sie wollen. Aber ich muss vorher die Haustür reparieren. Sie schließt nicht mehr richtig. Ich brauche ein Brett, Hammer und Nägel. Haben Sie so etwas im Haus?»
«Nein … nein, das ist alles draußen, im Stall.»
«Gut, bleiben Sie bei Ihrer Tochter, ich kümmere mich darum. In einer halben Stunde bin ich wieder bei Ihnen.»
«Nein! Warten Sie. Da … da gibt es noch kein Licht, da finden Sie im Dunkeln nichts.»
Das stimmte, aber es war nicht der Grund, warum sie ihn zurückhielt. Sie wollte nicht allein im Haus bleiben, nicht jetzt. Er sah sie einen Moment lang an.
«Okay», sagte er leise, «dann stelle ich einen der Küchenstühle vor die Tür, damit der Wind sie nicht aufdrückt, in Ordnung?»
Kristin nickte.
Aus der Küche holte er einen Stuhl, trug ihn zur Haustür und klemmte ihn unter die Klinke. Mit dem Fuß trat er ein paarmal kräftig gegen die hinteren Beine, bis der Stuhl verkeilt war. Dann nahm er die Milchkanne und stellte sie so auf der Sitzfläche des Stuhls ab, dass sie herunterfallen würde, sobald die Tür aufging. Das metallene Geschepper auf den harten Fliesen würde im ganzen Haus zu hören sein. Kristin stand mit vor der Brust verschränkten Armen im Türrahmen zum Wohnzimmer und beobachtete ihn. Sie war sich nicht sicher, was sie von ihm halten sollte, ahnte
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