Der Gesang des Blutes
durchwachten Nächten war es für sie zu einem Bestandteil der Stille geworden. Sie nahm ihren gefütterten Mantel vom Haken, zog ihn an, band sich den selbstgestrickten Schal um, stieg in Stiefel und Handschuhe und öffnete die Haustür. Sofort stoben Schneeflocken in den Flur. Hanna kniff die Augen zusammen, trat in die Nacht hinaus und zog die Tür hinter sich zu.
Der dichte Schneefall war wie Nebel. Hanna verharrte, fragte sich, ob es nicht schlauer wäre, wieder ins Haus zu gehen. Da sie aber schon einmal angezogen war und in ihren vier Wänden nichts anderes wartete als die üblichen schweigenden Schatten und still glotzenden Möbel, verwarf sie den Gedanken. An der Dorfstraße würde sie sich trotz des dichten Schneetreibens kaum verlaufen. In Althausen kannte sie sich besser aus als in ihrer sprichwörtlichen Westentasche.
Da der Eingang an der von der Straße abgewandten Seite lag, musste sie ums Haus herum, über den Parkplatz und erreichte dann den Parkstreifen vor dem Laden. Während sie durch den knarzenden Schnee ging, fiel ihr ein, dass sie Heinrich würde anrufen müssen. Diesmal würde es ein hartes Stück Arbeit werden, den Eingangsbereich vom Schnee zu befreien – und es würde lange dauern. Es war ja nicht so, dass sie Heinrich das Geld nicht gönnte, doch sie wusste auch, wie gern er es in der Kneipe gegen Alkohol tauschte.
An der Dorfstraße blieb Hanna stehen. Aus zusammengekniffenen Augen blickte sie nach links und rechts die einsame weiße Straße hinunter, die sich schon nach wenigen Metern im Wirrwarr aus Flocken verlor. Es schien, als führe sie geradewegs in eine andere Welt.
Die Nacht war erschreckend still, nicht einmal ein Hund bellte. Hanna konnte den Schnee fallen hören; ein leises, ständiges Flüstern, sanft und beruhigend. Vor ihrem Laden und schräg gegenüber an der Bushaltestelle ragten zwei Bogenlampen empor und verteilten mattes, rötliches Licht. Es waren die einzigen im Dorf, die die ganze Nacht durchbrannten. Stoßweise peitschte der böige Wind die Flocken durch den Lichtkegel, in dem sie sich rötlich verfärbten.
Gedankenverloren betrachtete Hanna das Schauspiel. Dann vergrub sie ihre Hände tief in den Taschen des Mantels und zog los. Sie nahm sich vor, bis zum Feuerwehrgerätehaus zu gehen und dort kehrtzumachen. Bei dem Wetter würde sie dafür vielleicht zwanzig Minuten brauchen. Das musste reichen. Spätestens dann würde sie völlig durchnässt und hoffentlich müde genug zum Schlafen sein. Während sie durch den Flockenwirbel ging, der sie wie ein Kokon umgab, kehrten ihre Gedanken unwillkürlich zu dem zurück, was sie in den letzten Tagen die meiste Zeit beschäftigt hatte: Kristin und Lisa. Das Haus. Das verfluchte alte Sasslingerhaus.
Indirekt war es schuld an Gerds Tod, auch wenn er die Weinbrandflaschen selbst an seine Lippen geführt hatte. Aber so einfach waren die Dinge nun mal nicht, nicht hier in Althausen.
Natürlich ist es einfach. Du musst nur zu ihr gehen und ihr die ganze Geschichte erzählen. Nicht diese abgespeckte Version, die sich bei Kaffee und Kuchen auf mädchenhafte Weise gruselig anhört. Was hält dich davon ab? Hast du Angst, dich damit zu beschäftigen? Meinst du, es könnte …
Schluss damit, unterbrach Hanna ihre Gedanken. Sie würde nicht durch die Gegend ziehen und haarsträubende Horrorgeschichten erzählen. Johann hatte schon recht, letztlich waren das nur alte Geschichten. Und Zufälle, nichts als Zufälle. Aber was, wenn nicht?
Was, wenn das Leben der beiden da drüben im Sasslingerhaus tatsächlich auf dem Spiel stand und sie nichts dagegen unternahmen, weil … na ja, weil es so etwas eben nicht gab? Nicht einer von ihnen würde mit dieser Schuld leben können, das wusste Hanna. Weder Johann noch Maria – und sie selbst schon gar nicht. Wir hätten das verfluchte Haus abbrennen sollen, als noch Zeit dafür war. Jetzt ist es zu spät … und vielleicht fängt durch unser Zögern alles wieder von vorn an.
Sie erreichte das Gerätehaus der Freiwilligen Feuerwehr von Althausen. Ein schmuckloser, viereckiger Bau, mit einem fünfzehn Meter hohen Schlauchturm, der wegen Einsturzgefahr aber schon seit Jahren nicht mehr benutzt wurde. Auf dem Vorplatz des Gerätehauses machte sie kehrt und ging neben ihren eigenen Fußstapfen zurück. Versuchte sogar, genau darin zu gehen, was nicht einfach war, aber die düsteren Gedanken vertrieb. Beschäftigung war noch immer das beste Mittel gegen Grübelei.
Ungefähr nach der
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