Der Gesang des Blutes
aber, dass er ihr und Lisa nichts tun würde. Sie wollte noch immer die Polizei rufen, mehr denn je, aber erst würde sie sich seine Erklärung anhören.
Sie gingen zurück ins Wohnzimmer. Kristin setzte sich in Toms schwarzen Ledersessel, Robert daneben auf die Zweiercouch. Nur die beiden Armlehnen der Möbelstücke trennten sie voneinander.
«Der Mann … er liegt im Keller», beantwortete Robert Kristins Frage von vorhin. «Es war die einzige Möglichkeit, ihn schnell verschwinden zu lassen. Und es musste schnell gehen, schließlich hätte jemand die Schüsse hören und die Polizei verständigen können.»
Kristin schüttelte den Kopf, rieb sich in den Augen, als hätte sie Kopfschmerzen, und sah ihn wieder an. «Ich … ich verstehe das alles nicht. Wieso müssen wir ihn vor der Polizei verstecken? Er ist doch hier eingebrochen. Sie haben doch in Notwehr gehandelt. Und … und wieso hat er nach Ihnen gesucht, bei mir? Was soll das alles?»
Auf der Couch gegenüber bewegte sich Lisa unruhig im Schlaf. Für einen Moment verharrten die beiden still, hörten dabei den Wintersturm mit seiner unheimlichen Stimme ums Haus toben. Schließlich begann Robert seine Geschichte zu erzählen. Er holte weit aus, begann an jenem Tag, als Tom ermordet worden war.
24
Obwohl Hanna Wittmershaus bis unmittelbar vor dem Zubettgehen das Gefühl gehabt hatte, heute gut schlafen zu können, war sie hellwach, als sie unter der warmen Daunendecke lag. So wach, dass ihre Gedanken sich nicht von den zwei Millionen Schafen beeindrucken ließen, die zu zählen sie drohte. Aus Erfahrung wusste sie, wie wenig Sinn es hatte, den Schlaf herbeizuzwingen. Sie stand auf, warf sich den weißen Bademantel über, knotete ihn an der Taille zusammen und trat ans Fenster. Mit der Routine von Jahrzehnten zog sie die hakenden Vorhänge und die alte Gardine beiseite und sah hinaus. Ihre Wohnung lag über dem Laden; von ihrem Schlafzimmerfenster aus konnte sie die gegenüberliegende Bushaltestelle, einige Häuser und ein gutes Stück der Straße überblicken. Ein Platz, von dem aus sie vieles mitbekam vom Leben in diesem Dorf. Manche Nächte hatte sie vor dem Fenster sitzend verbracht und herausgefunden, welche Ehemänner mitten in der Nacht von weiß Gott woher kamen.
So dicht, wie sie es noch nie erlebt hatte, stoben in dieser stillen Nacht, drei Wochen vor Weihnachten, die Schneeflocken an ihrem Fenster vorbei. Heftige Böen drückten gegen die Scheiben, ließen die alten Fenster erzittern. Als Hanna ihre Hand zwischen die beiden Flügel hielt, spürte sie den kalten Luftzug. Draußen war wie von Geisterhand alles gleich geworden. Kein Unterschied war mehr zu erkennen zwischen Straße und Bürgersteig. Vor dem Holzhäuschen, das als Bushaltestelle diente, türmte sich eine Schneewehe auf, die wie ein kleiner Deich anmutete. Unberührt schimmerte die Schneedecke im Licht der Straßenlaternen. Der Räumdienst hatte sich noch nicht blicken lassen, doch das war nicht ungewöhnlich. In Althausen gab es niemanden für diese Aufgabe, und bevor der Schneepflug der Samtgemeinde den Weg hier heraus fand, würde es wieder hell sein. Ein ausgewachsenes Unwetter.
Hanna freute sich trotzdem. Genau konnte sie sich nicht erinnern, meinte aber, höchstens zwei- oder dreimal in ihrem Leben kurz vor Weihnachten so viel Schnee gesehen zu haben – irgendwann in ihrer frühen Kindheit. Schon damals wollte sie immer die Erste sein, die ihre Fußabdrücke in dem unberührten Schnee hinterließ. Ein Spaziergang zu dieser Zeit war für sie nicht ungewöhnlich, vielmehr war es eine der vielen Methoden, die Nacht zu überstehen, ohne dem Wahnsinn zu verfallen.
Ihre auf Schlaf eingestellten Gelenke schmerzten, als sie in die Hosen stieg. Seit drei Monaten spürte sie öfter dieses Stechen, das von ganz tief drinnen zu kommen schien. Hauptsächlich in den Knien, Schultern, Ellenbogen und Händen. Hanna ahnte, was da auf sie zukam, und gerade deswegen hatte sie einen Arztbesuch bislang vermieden. Sie war nicht sonderlich erpicht darauf, aus dem Munde eines Mannes, mit dem sie die Schulbank gedrückt hatte, zu hören, dass die Gicht sich wie ein schleichendes Gift über ihren Körper hermachte.
In Jeans und Norwegerpulli schlich sie die knarrende Holztreppe hinunter. Die Notbeleuchtung aus dem Laden warf ein mattes Lichtfeld auf das abgewetzte Linoleum des Flures, das mechanische Surren des Kühlaggregates erfüllte das Erdgeschoss. Hanna hörte es nicht mehr; nach so vielen
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