Der Gesang des Blutes
lesen. All das wollte er – aber nicht rüberfahren, die Tür aufsperren und Hanna mit weit aufgerissenen Augen in ihrem Bett liegend vorfinden. Dahingeschieden an Herzversagen, jenem grausamen Kameraden alter Tage, der auch bei ihm schon angeklopft hatte.
«Ist gut, wir nehmen den Daimler», hörte er sich sagen und zog seine Jacke an.
Maria gab den Kindern Bescheid. Als sie drei Minuten später zu ihrem Mann in den alten Geländewagen der Baumschule stieg, hatte Johann den Diesel schon vorgeglüht. Beim fünften Versuch sprang er an, stieß eine blaugraue Qualmwolke aus, die den ganzen Unterstand vernebelte, stotterte, entschied sich aber fürs Arbeiten.
«Das ist ’ne ganze Menge Schnee», gab Johann zu bedenken. «Vielleicht sollten wir die Ketten anlegen?»
«Dazu ist keine Zeit. Fahr einfach los. Wir haben doch Winterreifen.»
Damit hatte sie recht. Nagelneue sogar. Johann hatte sie vor vier Wochen selbst aufgezogen. Nicht weil er mit Schnee gerechnet hatte, sondern weil er mit ihnen auf dem matschigen Gelände der Baumschule am besten vorankam. Er seufzte, schaltete den Vierradantrieb zu, legte den ersten Gang ein und fuhr los. Als die Vorderräder aus dem trockenen Unterstand auf die Schneedecke rollten, stieg der Wagen vorn ein gutes Stück hoch. Die Reifen wühlten, schaufelten, bekamen Unterstützung von hinten und gruben sich in den Schnee. Das tiefe Profil fasste, der Daimler bockte kurz, dann war er raus. Behutsam gab Johann Gas. Sie konnten von Glück sagen, dass der Schnee trocken war und sich darunter keine Eisschicht befand. Als er spürte, wie zuverlässig die neuen Reifen sich durch die hohe Schneedecke wühlten, begann Johann den Optimismus seiner Frau zu teilen – zumindest, was die Fahrtstrecke zum Laden anging.
Mit vorsichtigen Bewegungen bog er auf die Landstraße ein, die noch nicht geräumt war. Orientieren konnte er sich nur an den Leuchtpfählen. Ihr Daimler war das erste Fahrzeug, das an diesem Morgen seine breiten Spuren in den Schnee zeichnete.
«Vor Mittag kommen die sicher nicht hier raus», sagte Johann und deutete mit dem Kinn auf die Straße.
Maria nickte nur. Verkrampft hielt sie sich am Griff der Tür fest. Den Rest der Strecke schwiegen sie. Johann konzentrierte sich, Maria sorgte sich, und ihr Schweigen konnte als Pfand gelten für ihrer beider Ahnung, dass etwas Schlimmes sie in der Wohnung über dem Laden erwartete.
Schon von weitem konnten sie die von Heinrich freigeschaufelte Fläche vor dem Eingangsbereich sehen. Johann parkte den Daimler ein paar Zentimeter vor dem hohen Schneehaufen. Der Laden war dunkel. Aus dem separaten Tchibo-Schaufenster strahlte ihnen eine junge Brünette entgegen, die sich über warme Sersucker-Bettwäsche in herbstlichen Farben freute. Neunundzwanzig fünfundneunzig, das dreiteilige Set.
«Heinrich hat recht», sagte Johann dumpf. Seine imaginäre Kamerafahrt durch die Wohnung da oben wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Er wusste genau, was er gesehen hätte, hätte Maria ihn nicht unterbrochen. Hanna, mit weit aufgerissenen Augen in ihrem Bett liegend, das Laken im Todeskampf um ihre Beine gewickelt, einen Arm mit verkrampften Fingern ausgestreckt zum zweiten Telefon, das auf dem Nachttisch stand. Johann ahnte, dass er diesen Anblick nicht ertragen würde, sollte er ihm tatsächlich begegnen.
Sie stiegen gleichzeitig aus und stapften wortlos durch den hohen Schnee ums Haus. Maria kam als Erste an der Tür an und klingelte. Einmal, zweimal, dreimal – ohne Ergebnis. Johann nestelte den Schlüssel aus seiner Jackentasche und führte ihn mit unsicherer Hand ins Schloss. Hanna hatte ihm den Schüssel und die Erlaubnis, ihn zu benutzen, vor sechs Jahren gegeben, nachdem sie auf der Treppe ausgerutscht war und sich den Knöchel des linken Fußgelenks gebrochen hatte. Sie hatte sich damals noch zum Telefon schleppen können, doch war ihr klargeworden, dass das nicht immer so sein würde.
Warum er seine Frau ansah, bevor er die Tür aufsperrte, wusste Johann nicht. Er folgte einem inneren Drang, sich von Maria per Blickkontakt die Erlaubnis dafür zu holen. Vielleicht, und in seinem tiefsten Inneren entsprach das wohl eher der Wahrheit, war es auch der klägliche Versuch, jemandem die Verantwortung zu geben. Jemandem die Leitung der kleinen Expedition anzuvertrauen.
Sie nickte ihm zu, er drückte die Tür auf.
Hanna stand nicht mit Wattebäuschchen in den Ohren und verdattertem Gesicht auf der Treppe. Damit war auch die letzte
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