Der Gesang des Blutes
Hoffnung auf ein gutes Ende verschwunden. Johann ging voran.
«Hanna?», rief er in den stillen Flur, der ihm schon jetzt, obwohl noch nichts feststand, für immer verlassen vorkam. Sein Blick ging zur Garderobe. Er bemerkte, dass dort kein Mantel, kein Schal, keine Mütze und auch keine Handschuhe waren. Hatte das etwas zu bedeuten? Johann überging die Frage, spürte aber, dass er in seinem Unterbewusstsein eine Tür aufgestoßen hatte, die Zugang bot zu einer ganz anderen Erklärung für Hannas Verschwinden als ein Herzinfarkt.
«Hanna?», rief Maria, lauter und fordernder als zuvor ihr Mann. Eine Antwort bekam auch sie nicht. Obwohl aus dem Laden das Surren eines Kühlaggregates zu hören war, schien die Stille undurchdringlich und erdrückend.
«Gehen wir nach oben», schlug Johann vor.
Bei jedem vorsichtigen Schritt knarzten die trockenen Balken und Bretter der alten Treppe. Johanns Atem ging heftig, und er spürte sein Herz unangenehm pochen, als sie die erste Etage erreichten. Vor der geschlossenen Schlafzimmertür blieben sie stehen.
«Geh du bitte vor», bat er Maria noch immer um Atem ringend. Es war schummrig auf dem oberen Flur. Sie hatten kein Licht gemacht, trotzdem konnte sie die Angst im Gesicht ihres Mannes sehen. Sie trat an die Tür, holte tief Luft und klopfte. Man trat nicht einfach in andre Leute Schlafzimmer, ohne zu klopfen, selbst dann nicht, wenn man darin eine Tote erwartete. Natürlich gab es keine Reaktion, aber Maria hatte auch keine erwartet. Sie drückte die Klinke nieder und trat ein.
Das Zimmer war leer. Überraschenderweise war es leer.
Zwar hatte Maria keine geistige Kamerafahrt erlebt wie ihr Mann, trotzdem aber dasselbe Bild erwartet: Hanna, tot und eingehüllt in ihre dicken Daunenbetten. Die Daunenbetten waren da, und augenscheinlich hatte jemand darin gelegen, doch von Hanna keine Spur.
«Wo kann sie sein?», fragte Johann, in seiner Stimme klang eine Spur Hoffnung mit. Sein Wachtraum hatte sich nicht erfüllt, vielleicht war Hanna doch nichts zugestoßen!
«Vielleicht im Wohnzimmer, vor dem Fernseher.»
Er machte kehrt und ging zum Wohnzimmer. Er ahnte, dass er dort nichts finden würde, und so war es auch. Das Wohnzimmer war verwaist. Johann kehrte zu Maria zurück, die noch immer neben dem Bett stand. Tiefe Falten zerfurchten ihre Stirn.
«In der Stube ist sie nicht.»
«Sieh dich hier mal um», sagte Maria leise und machte eine Handbewegung durch den Raum. «Fällt dir was auf?»
«Ich weiß nicht … entweder hat sie schon geschlafen, oder sie macht ihr Bett nicht regelmäßig.»
«Ich glaube, sie hat schon geschlafen. Da drüben auf dem Stuhl liegt ihr Nachthemd, und am Haken hängt der Bademantel. Was aber fehlt, ist ihre Kleidung. Wenn sie sich auszieht, legt sie ihre Sachen bestimmt auf den Stuhl. Wie beinahe jeder Mensch.»
«Was willst du damit sagen?»
«Ich weiß nicht, aber es sieht doch so aus, als habe sie nicht einschlafen können. Sie ist aufgestanden und hat sich angezogen. Aber wo ist sie hingegangen?»
Johann nickte zustimmend. «Unten im Flur habe ich an der Garderobe ihre Wintersachen vermisst.»
Die beiden sahen sich an. Seitdem sie das Haus betreten hatten, nein, noch weiter zurück, seitdem Heinrich angerufen hatte, war langsam, aber unaufhaltsam etwas in ihnen aufgestiegen, und während sie sich nur mit dem Wahrscheinlichen beschäftigt hatten, hatte sich das andere, das Unwahrscheinliche, manifestiert. Allerdings barg es ein so abgründiges Grauen, dass sowohl Johann als auch Maria es zunächst vermieden, darüber zu sprechen. Stattdessen schlug Johann vor, die komplette Wohnung und den Laden zu durchsuchen. Bis in den letzten Winkel, auch die Toilette.
Zehn Minuten später standen sie vorn im Laden an der Kasse und gaben sich geschlagen. Nebeneinander lehnten sie an dem kurzen Förderband und starrten durch die verglaste Eingangstür hinaus in die Winterlandschaft. Vereinzelt trudelten schon wieder Flocken aus dem dunkler werdenden Grau des Himmels. Vorboten oder Nachzügler, wer konnte das schon sagen? Sie landeten auf der noch warmen Motorhaube des Daimler und schmolzen sofort. Rechts vom Eingang lehnte der große Schneehaufen an der Wand, den Heinrich so sorgfältig platt geklopft hatte. Johann wünschte, dort hineinkriechen zu können und die Welt für eine Weile zu vergessen. Vielleicht auch für immer.
«Ob es was damit zu tun hat?», fragte Maria leise und eröffnete offiziell den Jahrmarkt des Grauens. Wieder mal war
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