Der Gesang des Blutes
sie die Erste, wieder mal hatte Johann sich nicht getraut. Er zuckte mit den Schultern und seufzte. «Woher soll ich das wissen? Ich hoffe nicht, aber ich kann mir ihr Verschwinden nicht erklären.»
Maria legte ihre Hand auf die ihres Mannes. «Wir sollten nach Haus fahren. Und vielleicht sollten wir Kristin anrufen.»
Er sah sie an. Mit tief in den Höhlen liegenden Augen und einer Verzweiflung darin, die ihr körperlichen Schmerz zufügte. «Ich steh das nicht noch einmal durch.» Seine Stimme zitterte, klang überhaupt nicht nach dem Johann Mönck, der über Jahrzehnte hinweg geholfen hatte, ein grausiges Kapitel des Dorfes zu verbuddeln. Maria nahm ihm nicht übel, dass er geschwiegen und alles ignoriert hatte, dass er gezögert und gezaudert hatte. Sie war damals nicht dabei gewesen im Sasslingerhaus. Sie war die Letzte, die jemanden verurteilen durfte. Und wenn Hanna etwas zugestoßen war, war ihr Mann der Letzte aus dem Kreis jener Personen, die alles mit angesehen hatten. Maria verschränkte ihre Finger zwischen den seinen. «Wir halten zusammen, wie immer. Zusammen werden wir es schon schaffen, ich bin ganz sicher.»
Johann drückte ihre Hand und nickte schwerfällig.
«Hoffentlich!»
Dann erhoben sich beide von dem Förderband und gingen durch die schmale Tür zwischen den Regalen für Dosengemüse und Haushaltsartikel in den Flur zurück. Johann warf noch einen Blick in das fensterlose Lager. Ihm war plötzlich eingefallen, dass er eine bestimmte Sache im Laufe des Tages vielleicht brauchen würde. Zwischen den eng stehenden Regalen fand er es nach kurzer Zeit: zwei Literflaschen Brennspiritus.
28
Sie verließen das Haus.
Es schneite wieder. Längst nicht so stark wie in der vergangenen Nacht, doch Kristin erinnerte sich, dass der Sturm genau so angefangen hatte: mit kleinen feinen Flocken. Der Himmel zeigte sich noch immer in einem dunklen, verwaschenen Grau, weder schön noch hässlich, aber erdrückend. Kristin war von der Schneemenge genauso überrascht wie Lisa. Dass er so hoch lag, hatte sie nicht erwartet. Direkt vor der Tür stapften sie in eine Wehe, die Kristin bis zu den Knien und Lisa bis zur Taille reichte. Sofort stürzte sich die Kleine lachend hinein.
«So viel Schnee, Mami, so viel!»
Kristin betrachtete sie. Ein erstaunlicher Gedanke ging ihr durch den Kopf. Kinder sind beinahe wie Tiere. Von einem Augenblick auf den anderen können sie ihre Gemütslage ändern und alles vergessen, was vorher war. Wie die Kuh auf der Weide, die weder Vergangenheit noch Zukunft, sondern nur das Jetzt kennt. Mit etwas Glück war die Erinnerung an den gestrigen Tag bald völlig aus Lisas Kopf verschwunden. Sie war noch niemals geschlagen worden, diese Form von Jungfräulichkeit hatte sie am gestrigen Tage verloren. Die ganze Nacht hatte Kristin sich vor dem Moment gefürchtet, wenn Lisa erwachen würde, hatte sich von Heulkrämpfen bis hin zu einer apathisch traumatisierten Tochter alles ausgemalt. Nichts davon war eingetreten. Nachdem Onkel Robert ihr versichert hatte, dass er den bösen Mann für immer verjagt hatte, war der Schnee für sie wichtiger gewesen. Sie so ausgelassen darin tollen zu sehen, tat gut. Gern hätte Kristin die Zeit angehalten, doch Johanns Worte am Telefon klangen noch immer in ihren Ohren nach.
Kommt so schnell ihr könnt.
«Komm jetzt, Lisa, du kannst gleich mit Toni im Schnee spielen.» Sie zog ihre Tochter am Ärmel aus der Schneewehe und folgte Robert, der vorausgegangen war. Er suchte die Spur, die er in der Nacht vorm Haus gesehen hatte, fand sie jedoch nicht. Zu viel Schnee war seitdem gefallen. Vor dem Unterstand blieb er stehen und sah sich um, kniff dabei die Augen zusammen, weil der Schnee blendete. Kristin bemerkte seinen argwöhnischen Blick, als sie ihn erreichte.
«Hast du was gesehen?» Mit beiden Händen presste sie Lisa fest gegen ihre Beine.
«Nein, nichts, gar nichts. Lasst uns trotzdem einsteigen und schnell hier verschwinden.»
Er setzte sich ans Steuer des Cherokee. Kristin ließ ihn fahren, weil sie es sich bei den Straßenverhältnissen nicht zutraute. Sie schnallte Lisa auf dem Kindersitz im Fond fest, setzte sich daneben und legte ebenfalls den Gurt an.
«Alles klar?», fragte Robert.
«Wir können.»
«Hoffen wir, dass der Wagen es schafft.»
Er schaffte es. Schwierigkeiten gab es nur bei der ansteigenden Auffahrt zur Landstraße, doch da der Schnee trocken und die Reifen des Cherokee gut waren, fraß er sich mit Hilfe des
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