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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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Schnee gefallen war. Und er hatte sein Leben in diesem Dorf verbracht – nur die Wehrpflicht hatte ihn damals für zwei Jahre in die Fremde verschlagen.
    Trotz seines nicht unbeträchtlichen Alkoholkonsums war von seinem Verstand noch genug übrig, um sich an den letzten Winter zu erinnern. Da hatte es vor Weihnachten überhaupt nicht geschneit. Erst im neuen Jahr, nachdem der Kahlfrost das Land wochenlang in seiner Gewalt gehabt hatte, war etwas Schnee gefallen. Fünf Zentimeter vielleicht, mehr auf keinen Fall. Und jetzt das.
    Heinrich kratzte sich im Schritt und ließ seinen Blick über die Felder hinter seinem Grundstück gleiten. Die weiße Fläche trieb ihm Tränen in die geröteten Augen. Früher hatte man sich darauf verlassen können, dass der Winter Ende November begann und nicht vor März endete. Und früher hatte es regelmäßig Schnee gegeben, so viel, dass die Leute ihn mitunter verflucht hatten. Heute war das anders. Die im Fernsehen sagten dauernd, der Treibhauseffekt sei schuld daran. Heinrich Sammer wusste nichts von solchen Effekten, doch er war lange genug auf der Erde – im nächsten Februar würden es vierundsechzig Jahre sein, wenn er sich nicht vorher zu Tode soff –, um aus Erfahrung behaupten zu können, dass das Wetter nicht mehr wie früher war. Dazu brauchte er kein scheiß Studium. Alles in allem war es zu einem ganzjährigen, miesen Einheitsbrei verkommen. Es gab keinen wirklichen Sommer und schon gar keinen Winter mehr.
    Darum war der Schneesturm der vergangenen Nacht schon ungewöhnlich. Und er würde ungewöhnlich viel Geld in seine stets leere Haushaltskasse bringen. Bei Hanna vorm Laden musste geräumt werden, damit die Leute einkaufen konnten, ohne sich Arme und Oberschenkelhälse zu brechen. Angesichts der eigenhändig gemessenen fünfzig Zentimeter fühlte Heinrich sich zwar nicht wohl, doch das Geld lockte. Richtig schwere Arbeit war das; diese Massen konnte man nicht einfach beiseiteschieben, da musste man mit der Schippe ran.
    Abermals kratzte er sich im Schritt, zog die Nase hoch und spuckte in den Schnee. Besser, jetzt gleich damit anzufangen, bevor irgendjemand auf die Idee kam einzukaufen. Es lag ihm nicht viel daran, diesen neugierigen Tanten zu begegnen, die schon von weitem schnüffelten, ob er getrunken hatte.
    Heinrich ging ins Haus, zog sich warm an, schnappte sich Schaufel und Schneeschippe aus dem Geräteschuppen und machte sich auf den Weg zum Edeka. Weit hatte er es nicht. Sein Haus lag in einer Sackgasse, kaum zweihundert Meter vom Laden entfernt. Auf dem Weg dorthin begegnete ihm niemand. Er war an diesem Morgen der Erste, der seine Spuren im Schnee hinterließ. Bei jedem seiner schwerfälligen Schritte sackte er tief ein. Seine Hosenbeine waren feucht, als er die Landstraße vorm Laden erreichte. Dort stützte er sich auf die Schneeschippe ab und sah sich um. Er wusste natürlich, dass er an der Straße stand, doch zu sehen war sie nicht. Alles war ein weites weißes Feld.
    Heinrich schüttelte den Kopf. So etwas hatte er lange nicht mehr gesehen. Bis der Räumdienst es nach Althausen schaffen würde – was ohne weiteres bis zum Mittag dauern konnte –, war die Straße praktisch nicht passierbar. Ein Wagen mit Vierradantrieb könnte es schaffen, alle anderen würden sich hoffnungslos festfahren.
    Was für ein Sturm!
    Er spuckte aus und wappnete sich mit der Vorstellung eines Fünfzigers in seiner Tasche gegen die Arbeit. Die Plattschaufel stellte er gegen die Eingangstür des Ladens, versuchte sein Glück zunächst mit der Schneeschippe. Von der Tür aus legte er los, stach die Schippe in den lockeren Schnee, hob sie heraus und warf ihn zur Seite. Als er das vier- oder fünfmal getan hatte, aber noch nicht viel weiter als zwei Schritte gekommen war, merkte er, auf was er sich da eingelassen hatte. Aber angefangen war angefangen, und für einen Fünfziger konnte er … nun, jedenfalls mehr als genug Flaschen Weinbrand kaufen.
    Eine halbe Stunde intensiver Arbeit später und unter den warmen Wintersachen völlig verschwitzt, näherte Heinrich sich mit seinem schmalen freigeräumten Weg den Fahrradständern. Die konnte er unter der Schneedecke nicht sehen, dafür aber den weiß bedeckten Huckel. Er stützte sich auf die Schippe, nahm die alte Bundeswehrfellmütze ab und kratzte sich im feuchten Haar. Stand da ein Blumenkübel, oder was?
    Genau wusste er es nicht. Er kam alle zwei bis drei Tage in den Laden, doch auf dergleichen Dinge achtete er kaum. War

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