Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
Vom Netzwerk:
war es sogar gefährlich? Gedanken waren geheim, aber Worte konnten alles Mögliche auslösen. Und vielleicht auch alles Unmögliche.
    Robert schien derselben Meinung zu sein, denn auch er sprach es nicht aus. «Was machen wir jetzt?», fragte er stattdessen. Er klang, als stolpere er geradewegs auf einen Abgrund zu, unfähig, die Richtung zu ändern. Und als wolle er diesen Klang bestätigen, lachte er plötzlich hölzern. «Ich … ich kann das nicht glauben. So etwas gibt’s doch gar nicht. Verdammte Scheiße!»
    «Pssst», machte Kristin und hielt ihren Zeigefinger an die Lippen. Lisa grunzte, drehte sich von einer Seite auf die andere, schlief aber weiter.
    Robert schloss die Augen, drückte seine Handballen darauf und wischte sich mit den Händen durchs Gesicht, als müsse er die Müdigkeit vertreiben. «’tschuldigung», flüsterte er, «aber ich bekomme das nicht in meinen Kopf.»
    «Schon gut, mir geht es doch genauso.»
    Er stand auf, ging zum Fenster, das durch die heruntergelassenen Rollos verdunkelt war, und kam wieder zurück. «Gut, also gut. Ich will gar nicht wissen, ob so was möglich ist. Nehmen wir einfach an, wir haben uns getäuscht. Nehmen wir an, Radduk lebte noch, als ich ihn in den Keller geschafft habe. Lassen Sie uns darüber nachdenken, was wir jetzt tun können, okay?»
    «Okay», sagte Kristin wider besseres Wissen.
    Sie hatte den Puls des Einbrechers nicht gefühlt, aber sie hatte eine Hälfte seines Gesichts unter dem Schuss zerplatzen sehen. Doch genauso wie Roberts Verstand wollte auch der ihre lieber an eine Täuschung glauben als an irgendwas anderes.
    Robert setzte sich in den Sessel, behielt die Waffe aber in der rechten Hand. «Sie hat nichts mitbekommen», sagte er mit einem schiefen Lächeln und deutete mit dem Kinn auf Lisa.
    «Sie hat einen guten Schlaf. Als Baby hat sie die ganze Nacht geweint. Ich glaube, was sie damals versäumt hat, holt sie jetzt nach.»
    «Ja … wahrscheinlich …»
    Sie schwiegen. Kristin drückte sich in die Ecke der Couch, schlug die Beine unter und verschränkte die Arme vor der Brust.
    «Ist Ihnen kalt?»
    «Etwas schon, ja.»
    Robert stand auf. «Gibt es noch eine Decke im Haus? Ich hole sie Ihnen.»
    «Nein, danke, es geht schon.»
    «Wirklich?»
    Sie nickte. «Setzen Sie sich bitte wieder, Robert … ich möchte hier nicht allein bleiben, nicht mal für einen kurzen Moment, also setzen Sie sich bitte wieder.»
    Sie hatte ihn zum ersten Mal mit Vornamen angesprochen. Das vorhin an der Treppe zählte nicht, da hatte sie nach ihm gerufen. Ihre Blicke begegneten sich im Halbdunkel des Raumes, wiederum länger als nötig. Schließlich nickte Robert und ließ sich in den Sessel fallen.
    «Solange es dunkel ist und der Schneefall nicht aufhört, können wir wenig machen», sagte er. «Im Haus sind wir sicher, ich hab die Tür mit dem Stuhl verrammelt. Da kommt niemand herein. Wir bleiben hier sitzen, warten, bis es hell wird, und trennen uns auf keinen Fall. Nicht einmal, wenn jemand auf die Toilette muss. In Ordnung?»
    «In Ordnung.»
    Was er vorschlug, war Kristin nur recht. Zwar war es ein aus Hilflosigkeit und Angst geborener Vorschlag, doch was blieb ihnen anderes übrig? Für den Augenblick fühlte sie sich wohl in seiner Gegenwart, war froh, dass er da war. Das überhaupt jemand da war.

26
    Samstag gegen sechs in der Früh begann der heftige Schneefall nachzulassen, um sieben fielen die letzten Flocken. Damit hatte es beinahe zwölf Stunden ununterbrochen geschneit, und Althausen glich einem gespenstischen Ort, der ebenso gut in Grönland hätte liegen können.
    Heinrich Sammer machte sich die Mühe nachzumessen. Als es hell wurde, stapfte er mit einem Zollstock in der Hand hinaus. In dem kleinen Gartenstück vor seinem Haus stand eine Vogeltränke aus Beton auf einem gut einen Meter hohen Sockel. Er selbst hatte das Ding gegossen, damals, als die Zeiten noch besser gewesen waren. «Katzensicher», verriet er jedem, der es wissen wollte, «das Ding ist katzensicher. Die verfluchten Mörder kommen einfach nicht über den glatten Rand!» Dann lachte er stets, und jeder konnte seine Zähne sehen, die streng genommen keine mehr waren.
    Heinrich furzte in die kalte Morgenluft, klappte den Zollstock auseinander und steckte ein Ende in die unberührte Schneehaube auf dem Vogelbad. Dann las er ab und pfiff laut durch seine gelben Stumpen. Fast fünfzig Zentimeter! Hol’s der Teufel, er konnte sich nicht erinnern, dass in Althausen jemals so viel

Weitere Kostenlose Bücher