Der Gesang des Blutes
Vierradantriebes langsam hinauf. Die Landstraße war als solche kaum zu erkennen. Kein Fahrzeug war seit Beginn des Sturms darauf gefahren. Sie war nur an den Bäumen und Begrenzungspfählen rechts und links auszumachen. Der heftige Wind hatte den Schnee von Nordosten durch die Luft gepeitscht. Dadurch waren die Stämme der Pappeln von einem weißen Mantel eingehüllt, der sie wie riesige Schneemänner wirken ließ, die ihre knochigen Krallen gen Himmel streckten. Außerdem hatte er den lockeren Schnee über die freien Felder getrieben und am Waldrand zu einem kilometerlangen, mannshohen Wall aufgetürmt, dessen obere Kante scharf umrissen war wie bei einer Eisscholle. Wie ein Wegweiser zeigte sie Richtung Westen. Auf den dunkelgrünen Ästen der Tannen war wegen des Sturms nicht viel Schnee liegen geblieben. Der Wald wirkte im Kontrast zur weißen Landschaft abgründig dunkel.
Robert fuhr langsam, mit beiden Händen hielt er das Lenkrad fest umklammert. Kristin konnte von hinten sehen, wie schwer es ihm fiel, den Wagen in der Spur zu halten. Die breiten Reifen mahlten durch den Schnee und machten knarzende Geräusche, die auch im Inneren des Cherokee zu hören waren.
«Ist Jeepi kaputt?», fragte Lisa.
«Nein, Jeepi geht es prima. Das ist der Schnee, der macht solche Geräusche, wenn man darüberfährt», klärte Kristin ihre Tochter auf. Die Kleine schien ihre Anspannung zu spüren, denn die meiste Zeit schwieg sie. Vielleicht war sie aber auch nur sprachlos vor Begeisterung. Zehn Minuten dauerte die Fahrt, und in dieser kurzen Zeit wurde der Schneefall wieder stärker. Ohne vom Wind gescheucht zu werden, trudelten die Flocken gemächlich zu Boden. Aus dem Kamin des Hauses der Möncks quoll grauer Rauch, der sich nur undeutlich vom wolkenverhangenen Himmel abhob. Die erleuchteten Fenster wirkten einladend und beruhigend in der Dunkelheit des Tages, trotzdem verschwand das drückende Gefühl in Kristins Bauch nicht. Dafür hatte Johann am Telefon zu eindringlich, zu verängstigt geklungen. Etwas war passiert, und Kristin ahnte, dass es mit ihr, Lisa und dem Haus zu tun hatte.
Das Haus ist böse … verlasst es … sofort!
Gern wäre sie jetzt bei ihrer Mutter. Was für Ängste musste sie im Krankenhaus ausstehen? Mit diesem Wissen, ohne die Möglichkeit zu helfen.
Johann öffnete die Haustür und winkte ihnen zu, als Robert den Cherokee in der Spur zum Unterstand ausrollen ließ. Kristin half Lisa aus dem Kindersitz. Sofort eilte sie durch den tiefen Schnee auf Johann zu. Robert hielt Kristin am Arm zurück.
«Vergiss bitte nicht, lass ihn erst reden. Am besten wäre es, wenn niemand den Grund erfährt, warum ich zu dir gekommen bin.»
Vor ihrer Abfahrt, als Lisa außer Hörweite gewesen war, hatte Robert vorgeschlagen, mit ihrer Geschichte vorerst hinterm Berg zu halten. Wenn es ihr ratsam erschien, könnte sie Johann später davon erzählen, vorerst blieb er jedoch Lisas Onkel und Toms Bruder. Kristin hatte den eigentlichen Grund seines Kommens beinahe vergessen. Sie hatte noch nicht mal über das Geld nachgedacht, das er ihr angeboten hatte.
«Ich bin bei euch zu Besuch, von Beruf bin ich Kripobeamter, deshalb trage ich eine Waffe. So können wir auch erklären, warum wir nicht sofort die Polizei gerufen haben.»
«Ich weiß nicht …?», sagte Kristin. Sie bezweifelte, dass Johann ihr eine solche Geschichte abnehmen würde. Aber klang die andere, die wahre Geschichte nicht noch unglaubwürdiger?
Robert drückte ihre Hand. «Nur wenn es nötig ist, okay?»
«Okay.»
Dann stapften sie auf die Haustür zu, und an Johanns Gesicht konnte Kristin von weitem erkennen, dass die Wahrheit an diesem Morgen das einzig Glaubhafte sein würde. Auch wenn sie sich noch so phantastisch anhörte.
29
Sie saßen in der Küche; Johann, Maria, Kristin und Robert. Toni und Lisa spielten unter Franziskas Aufsicht im Spielzimmer, wozu sie nur unter Protest zu bewegen gewesen waren, da sie lieber Schlitten fahren wollten. Maria hatte Tee gemacht. Schwarzen Tee mit Zitrone. Sie saßen um den großen Tisch, die tiefhängende Lampe legte einen schützenden Lichtschein um sie, und Kristin fühlte sich, als seien sie eine verschworene Gruppe, die sich gegen eine kalte, feindliche Welt behaupten musste. Vielleicht hatten Johann und Maria ihr die Erklärung, was Robert betraf, abgenommen, vielleicht aber auch nicht. Sie wussten jetzt, dass er Toms Bruder war und gestern Abend zu Besuch gekommen war. Und ganz sicher wunderten sie
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