Der Gesang des Blutes
auch egal. Wo etwas stand, konnte niemand gehen, und wo sowieso niemand gehen konnte, brauchte er nicht freizuräumen. Und mit dem Fahrrad würde die nächsten Tage keiner zum Einkaufen kommen. Da er schon nicht mehr wusste, wohin mit dem vielen Schnee, beschloss Heinrich, den Huckel noch zu vergrößern. In der nächsten Stunde räumte er ein ordentliches Stück des Platzes vor dem Laden frei und türmte den meisten Schnee auf den Huckel. Ein beträchtlicher Berg kam zustande, der, sollte Tauwetter einsetzen, sich noch eine ganze Weile halten würde. Zwischendurch klopfte Heinrich den Haufen immer wieder fest, damit er noch mehr Schnee draufschaufeln konnte.
Bald machten seine Finger und sein Rücken sich schmerzhaft bemerkbar, er spürte, dass seine Kraft nachließ. Er hatte noch nicht gefrühstückt, und gegen neun Uhr war immer die erste Flasche Karlsquell fällig. Warum kam Hanna nicht heraus? Immerhin war es Viertel vor neun. Um Punkt neun öffnete sie für gewöhnlich den Laden. Hanna war bekannt für ihre Pünktlichkeit. Wo blieb sie also?
Da Heinrich nicht ums Haus laufen und klingeln wollte, arbeitete er weiter. Bald hatte er einen quadratischen Schneeberg geschaffen, der sich an die Wand des Hauses lehnte. Von Hanna war noch immer nichts zu sehen.
Missmutig lehnte er die Schippe gegen den Schneehaufen und machte sich auf den Weg nach hinten. Ob der Laden öffnete oder nicht, war ihm egal, aber ohne seinen Fünfziger wollte er nicht gehen. Gutes Geld für gute Arbeit! So war das nun mal, und Kredit gab er nicht.
Ihm war nicht wohl dabei, und sein Finger zuckte ein paarmal von dem Klingelknopf zurück, schließlich drückte er ihn aber doch. Drinnen auf dem Flur schellte es laut. Schnell trat Heinrich zwei Schritte zurück und verschränkte seine Arme hinter dem Rücken. In der Stellung verharrte er beinahe zwei Minuten. Dann sagte er leise «Scheiße», trat vor, klingelte noch mal, und etwas später noch ein drittes Mal und etwas länger. Es kam trotzdem keine Hanna Wittmershaus mit einem Fünfziger in der Hand.
Heinrich Sammer wurde nachdenklich. Neben dem Hunger und seinem Verlangen nach Alkohol machte sich ein weiteres Gefühl in seinem Bauch breit. Eines, das er nicht zu deuten vermochte, aber es machte ihn … nun, zumindest nervös. Hanna war immer in ihrem Laden, wo sollte sie auch sonst sein? Hier war was nicht in Ordnung. Vielleicht war es besser, Johann anzurufen? Johann würde schon wissen, was zu tun war. Das hatte er immer gewusst.
Heinrich machte sich auf den Weg nach Haus – und er ging schnell.
27
Johann Mönck starrte den Telefonhörer an, bevor er ihn zurück auf die Gabel legte.
«Wer war das?», fragte Maria. Sie stand hinter ihm im Türrahmen zur Küche.
«Heinrich.» Tonlos und weit entfernt klang seine Stimme. Johann drehte sich um, ließ die Arme kraftlos hängen und sah seine Frau an. «Hanna hat den Laden nicht aufgemacht. Heinrich hat Schnee bei ihr geräumt und geklingelt. Sie hat nicht geöffnet.»
«War er betrunken?»
Johann zuckte mit den Schultern. «Noch nicht so früh am Morgen. Du kennst ihn. Ein, zwei Bier vielleicht. Längst nicht genug, ihn Blödsinn quasseln zu lassen.»
«Ruf an.»
Johann nickte und tippte jene Nummer ein, die er im Schlaf aufsagen konnte. Er spürte den Atem seiner Frau im Nacken, während er es klingeln ließ. Hanna nahm nicht ab. Vor seinem geistigen Auge sah er den alten Telefonapparat in ihrem Wohnzimmer auf dem Sekretär, wie er bei jedem Klingeln zappelte. Und als bediene er eine ferngesteuerte Kamera, wanderten seine Gedanken von dort zum dunklen Flur, auf die geöffnete Tür des Schlafzimmers zu, über den Boden zum Bett, und dann …
«Gut, wir fahren sofort rüber und sehen nach. Du hast doch den Schüssel noch, oder?» Maria ging zur Garderobe und nahm ihren Mantel vom Haken.
Johann nickte, legte den Hörer auf, rührte sich aber nicht von der Stelle. Sie konnten natürlich tun, was seine Frau vorschlug. Er hatte einen Schlüssel zu Hannas Haus, und ihr alter Daimler mit Vierradantrieb würde sich wahrscheinlich durch den Schnee fressen. Sie konnten hinfahren und nachsehen, so wie es sich für gute Nachbarn und alte Freunde gehörte. Die Frage war nur, ob er wollte? Johann wollte sich einfach nur wieder an den Küchentisch setzen und seinen Kaffee zu Ende trinken. Einen Samstag ohne Arbeit genießen, es den Kindern überlassen, den Hof zu räumen, die Füße hochlegen und den Sportteil der Zeitung von gestern noch einmal
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