Der Gesang des Satyrn
sollte recht behalten. Wenige Tage später schlich Proxenos sich an Phanos Wiegenbettchen, um ihr eine Eidechse hineinzulegen. Als Neaira ihre Tochter schreien hörte und Thratta mit der Eidechse angelaufen kam, war Neaira am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Was würde als Nächstes in Phanos Bettchen liegen – eine Giftschlange? Würde er ihr ein Ärmchen abschneiden, wie er es mit dem Schwanz der Katze vorgehabt hatte? Neaira ging in Proxenos Zimmer, wo er mit seinem Bruder über einer Hausarbeit saß, die ihr Lehrer ihnen aufgegeben hatte.
Gerne hätte sie ihn mit einem Weidenstock geschlagen, wie Idras einst sie. Doch Neaira wusste, dass Stephanos es nicht dulden würde. Bei einem Mädchen hätte er es geduldet, bei seinen Söhnen niemals. Aber es musste endlich ein Ende haben. Neaira ertrug seine Boshaftigkeit nicht mehr. Obwohl der beinahe dreizehnjährige Proxenos ein kräftiger Knabe war, bereitete es Neaira in ihrer Wut und Verzweiflung keine Mühe ihn zu überrumpeln. Sie verpasste ihm eine schallende Ohrfeige, die seine Wange rot färbte. Entsetzt und mit aufgerissenen Augen sah er sie an. Ariston war verstummt. Noch nie hatte eine Frau sie geschlagen ... noch nicht einmal ihre Mutter.
„Du wirst deine Schwester in Ruhe lassen und auch Kokkaline und Thratta“, fuhr Neaira ihn an und drohte ihm mit dem Finger. Proxenos Lippen zitterten, und in seine Augen traten Tränen des Zornes.
„Sie ist nicht meine Schwester“, schrie er Neaira an.
Dann wurde er ruhig, und seine Augen umspielte ein düsterer Zug. „Die Tochter einer Hure kann nicht meine Schwester sein!“ Er wandte sich an Ariston. „Ist sie deine Schwester, Ariston?“
Der schüchterne Knabe, dem Schatten seines rebellischen Bruders nicht gewachsen, schüttelte den Kopf und sah zu Boden. Proxenos nickte zufrieden. „Du hast es gehört. Sie ist nicht unsere Schwester. Ihr seid nur hier, weil mein Vater euch duldet. Und jetzt mach, dass du aus meinem Zimmer kommst. Frauen haben hier nichts verloren!“
Neaira verzichtete darauf, Proxenos ein weiteres Mal zu schlagen. Stattdessen beschloss sie, mit Stephanos zu sprechen. Er war der Vater der Jungen und musste dafür sorgen, dass endlich Frieden in seinem Haus einkehrte.
Stephanos war glücklich darüber, dass sein Haushalt endlich wieder in den geordneten Bahnen eines Familienlebens verlief und erklärte Neaira, dass er viel beruhigter und damit wohl auch erfolgreicher seinem Broterwerb würde nachgehen können. Die Boshaftigkeiten seiner Söhne spielte er herunter. „Sie müssen sich erst daran gewöhnen wieder eine Frau in ihrem Haus zu haben.“
In ihrem Haus? Wie konnte er nur so uneinsichtig sein.
Neaira beschloss, Stephanos von dem Vorfall mit der Katze zu erzählen. Er hörte ihr zu, fuhr sich dann über das Kinn und zuckte mit den Schultern. „Sie sind Knaben. Die Spiele der Knaben sind derb, aber das wird sich legen, wenn sie älter werden.“
Das würde es nicht – nur die Opfer würden größer werden, vielleicht Menschen ... vielleicht Phano! Warum war er so blind? „Sie sagen, dass Phano nicht ihre Schwester ist. Was willst du dagegen unternehmen?“
Zumindest hier musste er aufhorchen. Stephanos wischte ihre Bedenken mit einer einzigen Handbewegung fort.
„Vielleicht werde ich dir bald ein anderes Leben bieten können.“
Am nächsten Tag brachte er Neaira einen neuen Peplos mit goldverziertem Kordelgürtel von der Agora mit. Neaira nahm ihn wortlos entgegen und ließ ihn von Kokkaline in eine Truhe packen. Seine Söhne tadelte er nicht, und Proxenos begegnete ihr fortan noch überheblicher und frecher als zuvor, da er wusste, dass sein Verhalten keine Strafe nach sich zog. Es kostete Neaira unendliche Geduld, ihn und seine Streiche zu übersehen. Sie wies Thratta an, Phano nicht mehr aus den Augen zu lassen, wenn Proxenos in der Nähe war.
„Womit verdienst du eigentlich dein Geld?“, fragte Neaira Stephanos eines Abends, als sie gemeinsam ihr Mahl einnahmen. Der Tag war anstrengend gewesen, und Neaira verlangte es nach Unterhaltung, die sich nicht mit den Themen des Haushalts beschäftigte. Stephanos erklärte ihr, dass er öffentlicher Redner sei und Anklageschriften vor den Gerichten vortrug. Neaira nickte und schwieg. Sie erinnerte sich an Lysias, den dieser Beruf reich gemacht hatte.
„Anscheinend ist Stephanos kein besonders guter Redner“, meinte sie später am Abend bedauernd zu Kokkaline, während diese ihr die Haare kämmte.
Neaira bemühte
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